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Albrecht Dihle
IVb
Die Hypothesis der ‘Phoinissen’ bezeichnet in einem Teil, der mög-
licherweise auf Aristophanes von Byzanz zurückgeht, die Teichoskopie
der Antigone als nicht zum Drama gehörig (pepog oük ecjti öpdpotTog).
In der Tat befremdet der doppelte Katalog der angreifenden Heere und
Heerführer - 103ff. bzw. 1104ff. - und dazu kommt, daß die topogra-
phischen Angaben der Mauerschau und des ersten Botenberichtes so
stark voneinander abweichen, daß beide Partien schwerlich nebenein-
ander zum echten Bestand der Tragödie gehört haben können. Wäh-
rend man in der antiken Philologie die Athetese der Mauerschau vor-
schlug, hat in jüngerer Zeit das komplementäre Verfahren Beifall ge-
funden. W. H. Friedrich1 äußerte die sehr ansprechende Vermutung,
man habe den Botenbericht um die Katalogpartie (1104-1140) erwei-
tert, um über einen Alternativtext mit der vollständigen Beschreibung
der angreifenden Kontigente für den Fall zu verfügen, daß man bei ei-
ner Aufführung des Stückes für die schwierige Gesangspartie der Anti-
gone in der Teichoskopie keinen hinlänglich geschulten Schauspieler
aufbieten konnte. Daß die Katalogpartie viele sprachlich-stilistische
Anstöße bietet und eine nicht eben geglückte „Kontrastimitation“ zur
zentralen Partie der ‘Sieben’ des Aischylos liefert, dürfte unbestritten
sein2.
Indessen steckt auch die Antigone-Szene des Tragödienanfangs voll
von Merkwürdigkeiten, ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie nicht
im geringsten mit der übrigen Tragödie in irgendeiner notwendigen
oder auch nur einleuchtenden Weise dramaturgisch verknüpft ist. Ihr
Fehlen würde, wie man schon in der Antike meinte, keine Lücke im
Aufbau des Dramas hinterlassen.
Zunächst einige inhaltlich-dramatische Merkwürdigkeiten.
Umständlich erläutert der alte Paedagoge, daß er das Argiverheer
und seine Führer genau kenne, weil er das Verhandlungsangebot an Po-
lyneikes ins Feindeslager gebracht habe (95ff.). Genau dasselbe sagt er,
1 Hermes 74, 1939, 265ff.
2 Vgl. die Übersicht bei A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen
31972, 444ff.
Albrecht Dihle
IVb
Die Hypothesis der ‘Phoinissen’ bezeichnet in einem Teil, der mög-
licherweise auf Aristophanes von Byzanz zurückgeht, die Teichoskopie
der Antigone als nicht zum Drama gehörig (pepog oük ecjti öpdpotTog).
In der Tat befremdet der doppelte Katalog der angreifenden Heere und
Heerführer - 103ff. bzw. 1104ff. - und dazu kommt, daß die topogra-
phischen Angaben der Mauerschau und des ersten Botenberichtes so
stark voneinander abweichen, daß beide Partien schwerlich nebenein-
ander zum echten Bestand der Tragödie gehört haben können. Wäh-
rend man in der antiken Philologie die Athetese der Mauerschau vor-
schlug, hat in jüngerer Zeit das komplementäre Verfahren Beifall ge-
funden. W. H. Friedrich1 äußerte die sehr ansprechende Vermutung,
man habe den Botenbericht um die Katalogpartie (1104-1140) erwei-
tert, um über einen Alternativtext mit der vollständigen Beschreibung
der angreifenden Kontigente für den Fall zu verfügen, daß man bei ei-
ner Aufführung des Stückes für die schwierige Gesangspartie der Anti-
gone in der Teichoskopie keinen hinlänglich geschulten Schauspieler
aufbieten konnte. Daß die Katalogpartie viele sprachlich-stilistische
Anstöße bietet und eine nicht eben geglückte „Kontrastimitation“ zur
zentralen Partie der ‘Sieben’ des Aischylos liefert, dürfte unbestritten
sein2.
Indessen steckt auch die Antigone-Szene des Tragödienanfangs voll
von Merkwürdigkeiten, ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie nicht
im geringsten mit der übrigen Tragödie in irgendeiner notwendigen
oder auch nur einleuchtenden Weise dramaturgisch verknüpft ist. Ihr
Fehlen würde, wie man schon in der Antike meinte, keine Lücke im
Aufbau des Dramas hinterlassen.
Zunächst einige inhaltlich-dramatische Merkwürdigkeiten.
Umständlich erläutert der alte Paedagoge, daß er das Argiverheer
und seine Führer genau kenne, weil er das Verhandlungsangebot an Po-
lyneikes ins Feindeslager gebracht habe (95ff.). Genau dasselbe sagt er,
1 Hermes 74, 1939, 265ff.
2 Vgl. die Übersicht bei A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen
31972, 444ff.