Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre
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graphie“.6 Andererseits muß man bei diesem Text in Rechnung zie-
hen, daß Burckhardt nicht nur mehr, sondern auch weniger vortrug, als
er aufgeschrieben hatte. Er experimentierte im Konzept gewagter als
im Hörsaal, zu seiner „eigenen Ermunterung“, wie er einmal in einem
Brief erklärt.7 Als 1929 seine „Historischen Fragmente“ mit den ver-
nichtenden Urteilen über den Islam aus dem Kolleg über die Kultur
des Mittelalters veröffentlicht wurden, erklärte Carl Neumann als
Ohrenzeuge, daß er das nicht in der Vorlesung gehört habe.8 Ähnliches
kann man beim Vergleich von Konzept und stenographischer Nach-
schrift der Vorlesung über das Revolutionszeitalter feststellen.9 Wenn
wir also jetzt den weitverbreiteten, in viele Sprachen übersetzten Text
der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ vor uns haben, lesen wir
nicht nur mehr, als Burckhardt veröffentlichen wollte, sondern wohl
auch mehr, als er sagen wollte. Nicht nur, wenn er das weiß, empfindet
der Leser oft den Reiz des Beiseitegesprochenen, des Gewagten und
Geheimnisvollen. Man kann dabei keineswegs sicher sein, daß man
hier den eigentlichen, den „wahren“ Burckhardt vor sich hätte, er tritt
für diesen Überschuß an Gewagtheiten nicht offen ein.
Noch deutlicher faßbar wird das Konzeptmäßige des Textes nun
dadurch, daß in der neuen Edition auch die Vorarbeiten zum endgül-
tigen Konzept, zum sog. „Neuen Schema“ veröffentlicht worden sind,
nämlich das Konzept zu einer kurzen früheren Einfuhrungsvorlesung,
außerdem das noch ganz anders aufgebaute „Alte Schema“ und Zwi-
schenblätter.10 Wir können also ziemlich genau die Entwicklung bis
6 So charakterisiert von Hermann Heimpel, Zwei Historiker, Göttingen 1962, S. 34.
7 „Es steht gar zu viel Unvorsichtiges darin, wo man mich beim Buchstaben fassen
könnte, wie ich es eben in der damaligen Laune hinwarf; Dinge die ich auch auf dem
Catheder gar nicht gesagt habe sondern nur zu meiner eigenen Ermunterung an den
Rand schrieb.“ Brief an einen Zuhörer vom 20. Oktober 1873. J. Burckhardt, Briefe,
hg. von Max Burckhardt, Bd. VI, Basel/Stuttgart 1966, S. 295.
8 Carl Neumann, Der unbekannte Jacob Burckhardt. Burckhardt und das Mittelalter.
In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte IX
(1931), S. 230; allgemeiner auch S. 209.
9 Emst Ziegler, Jacob Burckhardts Vorlesung über die Geschichte des Revolutions-
zeitalters in den Nachschriften seiner Zuhörer. Rekonstruktion des gesprochenen
Wortlautes. Basel/Stuttgart 1974, S. 493. Ausführliche Beschreibung des Konzeptes:
Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, eine Biographie, Bd. V, Basel/Stuttgart 1973,
S. 245-444; Vergleich S. 435ff.
10 Die Bezeichnungen „Altes Schema“ und „Neues Schema“ stammen von Burckhardt
selber. Auch seine Übersichtsblätter zum Memorieren der Vorlesung sind in diese
Edition aufgenommen.
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graphie“.6 Andererseits muß man bei diesem Text in Rechnung zie-
hen, daß Burckhardt nicht nur mehr, sondern auch weniger vortrug, als
er aufgeschrieben hatte. Er experimentierte im Konzept gewagter als
im Hörsaal, zu seiner „eigenen Ermunterung“, wie er einmal in einem
Brief erklärt.7 Als 1929 seine „Historischen Fragmente“ mit den ver-
nichtenden Urteilen über den Islam aus dem Kolleg über die Kultur
des Mittelalters veröffentlicht wurden, erklärte Carl Neumann als
Ohrenzeuge, daß er das nicht in der Vorlesung gehört habe.8 Ähnliches
kann man beim Vergleich von Konzept und stenographischer Nach-
schrift der Vorlesung über das Revolutionszeitalter feststellen.9 Wenn
wir also jetzt den weitverbreiteten, in viele Sprachen übersetzten Text
der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ vor uns haben, lesen wir
nicht nur mehr, als Burckhardt veröffentlichen wollte, sondern wohl
auch mehr, als er sagen wollte. Nicht nur, wenn er das weiß, empfindet
der Leser oft den Reiz des Beiseitegesprochenen, des Gewagten und
Geheimnisvollen. Man kann dabei keineswegs sicher sein, daß man
hier den eigentlichen, den „wahren“ Burckhardt vor sich hätte, er tritt
für diesen Überschuß an Gewagtheiten nicht offen ein.
Noch deutlicher faßbar wird das Konzeptmäßige des Textes nun
dadurch, daß in der neuen Edition auch die Vorarbeiten zum endgül-
tigen Konzept, zum sog. „Neuen Schema“ veröffentlicht worden sind,
nämlich das Konzept zu einer kurzen früheren Einfuhrungsvorlesung,
außerdem das noch ganz anders aufgebaute „Alte Schema“ und Zwi-
schenblätter.10 Wir können also ziemlich genau die Entwicklung bis
6 So charakterisiert von Hermann Heimpel, Zwei Historiker, Göttingen 1962, S. 34.
7 „Es steht gar zu viel Unvorsichtiges darin, wo man mich beim Buchstaben fassen
könnte, wie ich es eben in der damaligen Laune hinwarf; Dinge die ich auch auf dem
Catheder gar nicht gesagt habe sondern nur zu meiner eigenen Ermunterung an den
Rand schrieb.“ Brief an einen Zuhörer vom 20. Oktober 1873. J. Burckhardt, Briefe,
hg. von Max Burckhardt, Bd. VI, Basel/Stuttgart 1966, S. 295.
8 Carl Neumann, Der unbekannte Jacob Burckhardt. Burckhardt und das Mittelalter.
In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte IX
(1931), S. 230; allgemeiner auch S. 209.
9 Emst Ziegler, Jacob Burckhardts Vorlesung über die Geschichte des Revolutions-
zeitalters in den Nachschriften seiner Zuhörer. Rekonstruktion des gesprochenen
Wortlautes. Basel/Stuttgart 1974, S. 493. Ausführliche Beschreibung des Konzeptes:
Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, eine Biographie, Bd. V, Basel/Stuttgart 1973,
S. 245-444; Vergleich S. 435ff.
10 Die Bezeichnungen „Altes Schema“ und „Neues Schema“ stammen von Burckhardt
selber. Auch seine Übersichtsblätter zum Memorieren der Vorlesung sind in diese
Edition aufgenommen.