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Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

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https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0016
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Ernst Schulin

Die Potenz Kultur
Bei der Potenzenlehre selber ist aber nun das Auffallendste, daß neben
Staat und Religion die Kultur als dritte Potenz tritt; auffallend, weil der
Kulturhistoriker Burckhardt im Alten Schema diese Potenz noch gar
nicht genannt hatte und man weder sagen kann, daß sie einfach eine
Zusammenfassung der von ihm zunächst noch vorgesehenen Bereiche
der Philosophie, Wissenschaften und Künste sei, noch, daß dieser
Kulturbegriff mit dem identisch sei, was er in seinem Buch über die
Kultur der Renaissance und in seinen Vorlesungen über mittelalter-
liche und später griechische Kulturgeschichte behandelte. Die Potenz
Kultur umfaßt weit mehr als nur Wissenschaften und Künste - sie hat
hier ihren Schwerpunkt sogar so wenig, daß Burckhardt an manchen
Stellen die Bedingtheit von Poesie und bildenden Künsten zu anderen
Potenzen separat behandelt.20 In seinem Buch über die Renaissance
und seinen Kulturgeschichten andererseits subsummierte Burckhardt
unter diesem Begriff auch Staat und Religion.21 Was also versteht er
unter der Potenz Kultur? Nach seiner eigenen Definition ist sie „Der
Inbegriff alles dessen was: zur Förderung des materiellen Lebens, und:
als Ausdruck des geistigen und gemütlich-sittlichen Lebens spontan
zu Stande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste,
Dichtungen und Wissenschaften. Die Welt des Beweglichen, Freien,
nicht (notwendig) Universalen; desjenigen was keine Zwangsgeltung
in Anspruch nimmt“ (254). „Sie wirkt unaufhörlich modifizierend und
zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen“ (Staat und
Religion) „ein ... Sie ist derjenige millionengestaltige Prozeß, durch
welchen sich das Naive und Rassenmäßige Tun in reflektiertes Können
umwandelt. .. Ihre äußerliche Gesamtform aber, gegenüber von Staat
und Religion, ist die Gesellschaft im weitesten Sinne.“ (276)
Diese Definition beschreibt ein ziemliches Konglomerat. Die Kultur
erscheint geradezu als proteusartig. Geschichtsphilosophische, kultur-
historische und politisch-liberale Elemente werden gemischt, aber
20 Allgemein zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie und der Künste S. 285-292.
Kunst in Bedingtheit durch Religion S. 307-309. Religion in Bedingtheit durch
Kunst und Poesie S. 340f. Besonderes Verhältnis der Krisen zu Kunst und Literatur
S. 364f.
21 Beschreibung der Vorlesung über die Kultur des Mittelalters nach den Manuskripten
bei Kaegi (wie Anm. 9) Bd. VI, S. 147-272. Es war die erste Vorlesung, die Burckhardt
als „Culturgeschichte“ ankündigte (1858, später meist „Cultur“). Vgl. das Verzeich-
nis seiner sämtlichen Basler Vorlesungen bei Ziegler (wie Anm. 9), S. 563-572.
 
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