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Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

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https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0020
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Ernst Schulin

Oder - auch das ist möglich - suchte Burckhardt durch seine systemati-
sche Disposition eine eigene geschichtsphilosophische Ansicht, die er
sich mit der Potenzenlehre vom Verlauf der Weltgeschichte erschlos-
sen hatte, zu verheimlichen? Sehen wir uns also eine solche Konstruk-
tion (oder Rekonstruktion) des Längsschnittes an!
Über den Anfang der Weltgeschichte vermeidet Burckhardt alle in
den Geschichtsphilosophien so weit ausgebreiteten Hypothesen. Er
weiß nicht, ob die staatliche Zwangsmacht oder eine vom geistigen
„Wunder“ der Sprache (276) belebte kulturelle Gemeinschaftsform
das frühere gewesen ist (124, 257). Jedenfalls ist die enge Verbunden-
heit, wenn nicht Identität der drei Potenzen in Ägypten, im Vorderen
Orient und den anderen ältesten Reichen Asiens und Amerikas evi-
dent. Die Religion verstärkt den Staat durch die Ausbildung des Heili-
gen Rechtes (294). Die Kultur verherrlicht Staat und Religion und
dient beiden, schafft große Zweckleistungen, wird aber einseitig und
starr ausgerichtet, ohne individuelle Weiterentwicklung, ohne Ausdeh-
nung, etwa durch Handel und Schiffahrt. Im weiteren Verlauf nimmt
die Übermacht des Staates zu, bis zum Despotismus. Fast in der
ganzen alten Geschichte bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert be-
dingt der Staat die anderen Potenzen. Anders ist es nur bei den von der
Religion beherrschten kleinen vorderasiatischen Tempel- und griechi-
schen Orakelstaaten (wie Delphi), bei den immer zur Theokratie nei-
genden Juden und bei den Anhängern der Zendreligion (309f.). Wie-
der anders bei den phönizischen Städten, in denen die Kultur in Form
von Handel und Schiffahrt den Staat bedingt (317f.).
Bei den Griechen ist Burckhardts Beurteilung komplizierter. Die
Religion ist bei ihnen wie bei den Römern eindeutig staatsbedingt
(326), sie ist viel schwächer als im Alten Orient und zügelt dadurch
auch die Kultur weit weniger. Diese Kultur in den griechischen Städ-
ten, so frei sie auch vom Kastenwesen und vom Heiligen Recht ist, wird
aber doch „in hohem Grade (positiv und negativ)“ von der Allmacht
der Polis bestimmt und beherrscht, dadurch daß diese von jedem ein-
zelnen „vor allem verlangte, daß er Bürger sei“ (297). In den Kolonial-
städten sieht er jedoch, ähnlich wie bei den Phöniziern, die Kultur herr-
schen: in Form von Handel, Gewerbe und freier Philosophie (318).
Und den Durchbruch der Demokratie sieht er in allen griechischen
Städten als Überwältigung des Staates durch die Kultur: „Es meldet
sich die Reflexion, angeblich als Schöpferin neuer politischer Formen,
tatsächlich aber als Allzersetzerin, zuerst in Worten, bis es dann unver-
meidlich auch zu den Taten kommt.“ (319) In dieser Zeit wird Athen
 
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