Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre
29
Schlußbemerkungen
Viele andere Perspektiven, die die Weltgeschichtlichen Betrachtun-
gen enthalten - wie es sich für eine wahre, klassische Grundschrift
gehört -, müssen hier beiseite bleiben, z.B. die oft behandelte zeit-
geschichtliche, bei der man feststellen kann, daß Burckhardt 1868-73
die europäische Krise politisch, wirtschaftlich, religiös und kulturell
viel intensiver und auch räumlich - auf Deutschland, Frankreich,
Österreich-Ungarn, Italien und das Papsttum ausgedehnt - viel umfas-
sender begriff als andere historische Beobachter. Nur zwei Schlußbe-
merkungen seien noch angefügt, die unser Verhältnis zu den über hun-
dert Jahre alten Aussagen eines Historikers betreffen.
Burckhardts „Sturmlehre“, das Kapitel über die geschichtlichen Kri-
sen, hat in gewisser Weise in der heutigen vergleichenden Revolutions-
forschung ihre Fortsetzung gefunden.38 Seine Potenzenlehre läßt sich
nur mit erheblichen Veränderungen bei heutigen Soziologen und
Historikern wiedererkennen, als Unterscheidung einzelner, gleichbe-
rechtigter, in partieller Abhängigkeit voneinander bestehender gesell-
schaftlicher Subsysteme oder geschichtlicher Wirklichkeitsbereiche.
Meistens unterscheidet man, wie etwa von Parsons vorgeschlagen,
Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Kultur.39 Verglichen mit Burckhardt,
erscheinen also die Teilbereiche Gesellschaft und Wirtschaft als so
eigengewichtig, daß sie von der Kultur getrennt werden. Die Religion
hat ihre Eigenbedeutung durch die Konkurrenz nichtreligiöser ideolo-
gischer Systeme mit ähnlichem Universalgeltungsanspruch so sehr
38 Theodor Schieder (Hg.), Revolution und Gesellschaft, Theorie und Praxis der
Systemveränderung, Freiburg 1973. Chalmers Johnson, Revolutionstheorie, Köln
1971, u.v.a. Das Krisenkapitel kann man im übrigen als denjenigen Abschnitt aus
den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ bezeichnen, der nach dem Zweiten Welt-
krieg zu den bisher bevorzugt gelesenen Teilen hinzukam, nämlich der Einleitung
und den Kapiteln über „Historische Größe“ und „Glück und Unglück in der Welt-
geschichte“. Aus der Potenzenlehre hat, jedenfalls bei den deutschen Lesern, der
Abschnitt über den Staat eine besondere Rolle gespielt, wegen der befremdenden
These über die böse Macht, während die Lehre insgesamt, besonders die Betrach-
tung der Bedingtheiten, bei der Rezeption immer zurückgetreten ist. Zum Krisen-
kapitel vgl. etwa: Theodor Schieder, Die historischen Krisen im Geschichtsdenken
Jacob Burckhardts, in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962.
39 Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 20. Ders.,
Gesellschaften, evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt 1975, S. 50ff.
Daran anknüpfend: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns,
Frankfurt 1981, Bd. I, S. 20. Ähnlich die „ensembles“ bei Fernand Braudel, Civili-
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Schlußbemerkungen
Viele andere Perspektiven, die die Weltgeschichtlichen Betrachtun-
gen enthalten - wie es sich für eine wahre, klassische Grundschrift
gehört -, müssen hier beiseite bleiben, z.B. die oft behandelte zeit-
geschichtliche, bei der man feststellen kann, daß Burckhardt 1868-73
die europäische Krise politisch, wirtschaftlich, religiös und kulturell
viel intensiver und auch räumlich - auf Deutschland, Frankreich,
Österreich-Ungarn, Italien und das Papsttum ausgedehnt - viel umfas-
sender begriff als andere historische Beobachter. Nur zwei Schlußbe-
merkungen seien noch angefügt, die unser Verhältnis zu den über hun-
dert Jahre alten Aussagen eines Historikers betreffen.
Burckhardts „Sturmlehre“, das Kapitel über die geschichtlichen Kri-
sen, hat in gewisser Weise in der heutigen vergleichenden Revolutions-
forschung ihre Fortsetzung gefunden.38 Seine Potenzenlehre läßt sich
nur mit erheblichen Veränderungen bei heutigen Soziologen und
Historikern wiedererkennen, als Unterscheidung einzelner, gleichbe-
rechtigter, in partieller Abhängigkeit voneinander bestehender gesell-
schaftlicher Subsysteme oder geschichtlicher Wirklichkeitsbereiche.
Meistens unterscheidet man, wie etwa von Parsons vorgeschlagen,
Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Kultur.39 Verglichen mit Burckhardt,
erscheinen also die Teilbereiche Gesellschaft und Wirtschaft als so
eigengewichtig, daß sie von der Kultur getrennt werden. Die Religion
hat ihre Eigenbedeutung durch die Konkurrenz nichtreligiöser ideolo-
gischer Systeme mit ähnlichem Universalgeltungsanspruch so sehr
38 Theodor Schieder (Hg.), Revolution und Gesellschaft, Theorie und Praxis der
Systemveränderung, Freiburg 1973. Chalmers Johnson, Revolutionstheorie, Köln
1971, u.v.a. Das Krisenkapitel kann man im übrigen als denjenigen Abschnitt aus
den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ bezeichnen, der nach dem Zweiten Welt-
krieg zu den bisher bevorzugt gelesenen Teilen hinzukam, nämlich der Einleitung
und den Kapiteln über „Historische Größe“ und „Glück und Unglück in der Welt-
geschichte“. Aus der Potenzenlehre hat, jedenfalls bei den deutschen Lesern, der
Abschnitt über den Staat eine besondere Rolle gespielt, wegen der befremdenden
These über die böse Macht, während die Lehre insgesamt, besonders die Betrach-
tung der Bedingtheiten, bei der Rezeption immer zurückgetreten ist. Zum Krisen-
kapitel vgl. etwa: Theodor Schieder, Die historischen Krisen im Geschichtsdenken
Jacob Burckhardts, in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962.
39 Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 20. Ders.,
Gesellschaften, evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt 1975, S. 50ff.
Daran anknüpfend: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns,
Frankfurt 1981, Bd. I, S. 20. Ähnlich die „ensembles“ bei Fernand Braudel, Civili-