8
Walter Burkert
mit Winckelmann ein neuer Begriff von tendenziell heidnischer Klassik sich durch-
setzte und mit Anschauung füllte. Zum zweiten entwickelte sich, von Herder aus-
gehend, ein romantischer Nationalismus, dem Literatur aufs innigste mit dem je-
weiligen Volk oder Stamm verbunden war; organische Entwicklung statt kultu-
reller Wechselwirkungen wurde zum Leitfaden des Verstehens. Besonderen Einfluß
gewann, in der Auseinandersetzung mit Friedrich Creuzers universalen Entwürfen,
Carl Otfried Müller mit dem Bild griechischer Stammeskultur5. Mit dem natio-
nalen Bewußtsein, mit der Wendung gegen 'Morgenländerei’ war bereits die Chance
zum Antisemitismus gegeben, gerade in der Zeit, als die volle rechtliche Gleich-
stellung der Juden zustandekam. Da trat als drittes just zurecht die Entdeckung
der indogermanischen Sprachverwandtschaft auf den Plan, geeignet, die Allianz von
Griechen, Römern und Germanen zu stärken und die Semiten in eine andere
Welt zu verweisen0. Es blieb nur noch die Eigenständigkeit der Griechen gegen-
über dem Indisch-Indogermanischen zu verteidigen7, um jene Auffassung vom
klassisch-nationalen Griechentum in seiner vorbildlichen Geschlossenheit und Ab-
geschlossenheit zu festigen, die das spätere 19. Jahrhundert zumindest in Deutsch-
land beherrscht8. Der Hohn, zu dem sich der jugendliche Wilamowitz hinreißen
läßt - „die seit Jahrhunderten faulenden Völker und Staaten der Semiten und
Aegypter, die den Hellenen trotz ihrer alten cultur nichts hatten abgeben können,
als ein paar handfertigkeiten und techniken, abgeschmackte trachten und geräte,
zopfige Ornamente, widerliche fetische für noch widerlichere götzen...“ - ist für ihn
selbst nicht repräsentativ; doch daran hält er fest, der Geist der Spätantike stamme
„aus dem Orient und ist dem echten Hellenentum todfeind“9.
Hinter der Gereiztheit läßt sich Unsicherheit vermuten. In der Tat ist das selbst-
genügsame Bild vom reinen Hellenentum, das mit Homer wundersam anhebt,
im Verlauf des 19. Jh. durch drei Gruppen neuer Entdeckungen überholt worden:
5 Vgl. Burkert (1980) 162-8. K. O. Müller wendet sich bereits gegen die semitische Her-
leitung des Kadmos: Orchomenos und die Minyer (1820) 113-22 (18442 107-16).
6 L. Poliakov, Le mythe aryen (1971) ~ Der arische Mythos. Zu den Quellen von Ras-
sismus und Nationalismus (1977). - So setzt z.B. F. G. Weicker, Griechische Götter-
lehre I (1857) 116-8 die Griechen prinzipiell von den Semiten ab.
7 Dies leistete bes. K. Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum (1856) p. VIII
(= 18752 p. VI): „daß ich unter Griechen dasjenige Volk verstehe, welches in Griechen-
land wohnte und Griechen hieß, durchaus keine Nation am Ganges oder Himalaya“.
Vgl. Kleine Schriften (1902) 388f.
8 Hierzu gehört auch E. Zellers Argumentation gegen orientalischen Ursprung der grie-
chischen Philosophie, Die griechische Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung
Erster Theil (18562) 18-34 ~ I6 (1919) 21-52. - Verschärfend H. Diels, Rez. von Gruppe
(1887) AGPh 2 (1889) 88-93; 658f.; Thales ein Semite?, ib. 165-70.
9 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen (1884) 215; Hellenistische
Dichtung I (1924) 2; vgl. Aus Kydathen (1880) 40. Er findet Poseidonios 1911 (Die Kul-
tur der Gegenwart3, 145) „doch schon orientalisch infiziert“; doch „eine Naturwissen-
schaft wie die des Poseidonios hat kein Semit im Altertum auch nur von fern be-
Walter Burkert
mit Winckelmann ein neuer Begriff von tendenziell heidnischer Klassik sich durch-
setzte und mit Anschauung füllte. Zum zweiten entwickelte sich, von Herder aus-
gehend, ein romantischer Nationalismus, dem Literatur aufs innigste mit dem je-
weiligen Volk oder Stamm verbunden war; organische Entwicklung statt kultu-
reller Wechselwirkungen wurde zum Leitfaden des Verstehens. Besonderen Einfluß
gewann, in der Auseinandersetzung mit Friedrich Creuzers universalen Entwürfen,
Carl Otfried Müller mit dem Bild griechischer Stammeskultur5. Mit dem natio-
nalen Bewußtsein, mit der Wendung gegen 'Morgenländerei’ war bereits die Chance
zum Antisemitismus gegeben, gerade in der Zeit, als die volle rechtliche Gleich-
stellung der Juden zustandekam. Da trat als drittes just zurecht die Entdeckung
der indogermanischen Sprachverwandtschaft auf den Plan, geeignet, die Allianz von
Griechen, Römern und Germanen zu stärken und die Semiten in eine andere
Welt zu verweisen0. Es blieb nur noch die Eigenständigkeit der Griechen gegen-
über dem Indisch-Indogermanischen zu verteidigen7, um jene Auffassung vom
klassisch-nationalen Griechentum in seiner vorbildlichen Geschlossenheit und Ab-
geschlossenheit zu festigen, die das spätere 19. Jahrhundert zumindest in Deutsch-
land beherrscht8. Der Hohn, zu dem sich der jugendliche Wilamowitz hinreißen
läßt - „die seit Jahrhunderten faulenden Völker und Staaten der Semiten und
Aegypter, die den Hellenen trotz ihrer alten cultur nichts hatten abgeben können,
als ein paar handfertigkeiten und techniken, abgeschmackte trachten und geräte,
zopfige Ornamente, widerliche fetische für noch widerlichere götzen...“ - ist für ihn
selbst nicht repräsentativ; doch daran hält er fest, der Geist der Spätantike stamme
„aus dem Orient und ist dem echten Hellenentum todfeind“9.
Hinter der Gereiztheit läßt sich Unsicherheit vermuten. In der Tat ist das selbst-
genügsame Bild vom reinen Hellenentum, das mit Homer wundersam anhebt,
im Verlauf des 19. Jh. durch drei Gruppen neuer Entdeckungen überholt worden:
5 Vgl. Burkert (1980) 162-8. K. O. Müller wendet sich bereits gegen die semitische Her-
leitung des Kadmos: Orchomenos und die Minyer (1820) 113-22 (18442 107-16).
6 L. Poliakov, Le mythe aryen (1971) ~ Der arische Mythos. Zu den Quellen von Ras-
sismus und Nationalismus (1977). - So setzt z.B. F. G. Weicker, Griechische Götter-
lehre I (1857) 116-8 die Griechen prinzipiell von den Semiten ab.
7 Dies leistete bes. K. Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum (1856) p. VIII
(= 18752 p. VI): „daß ich unter Griechen dasjenige Volk verstehe, welches in Griechen-
land wohnte und Griechen hieß, durchaus keine Nation am Ganges oder Himalaya“.
Vgl. Kleine Schriften (1902) 388f.
8 Hierzu gehört auch E. Zellers Argumentation gegen orientalischen Ursprung der grie-
chischen Philosophie, Die griechische Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung
Erster Theil (18562) 18-34 ~ I6 (1919) 21-52. - Verschärfend H. Diels, Rez. von Gruppe
(1887) AGPh 2 (1889) 88-93; 658f.; Thales ein Semite?, ib. 165-70.
9 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen (1884) 215; Hellenistische
Dichtung I (1924) 2; vgl. Aus Kydathen (1880) 40. Er findet Poseidonios 1911 (Die Kul-
tur der Gegenwart3, 145) „doch schon orientalisch infiziert“; doch „eine Naturwissen-
schaft wie die des Poseidonios hat kein Semit im Altertum auch nur von fern be-