Die orientalisierende Epoche
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des Aischylos12: Apollon selbst hält das Sühne-Ferkel direkt über den Kopf des
Befleckten, das Blut wird direkt auf sein Haupt fließen, läßt sich aber auch wieder
beseitigen; Schuld wird waschbar.
Reinigung von Blut durch Blut in dieser Form ist in 'Babylonien’ nicht be-
zeugt, wie Famell feststellte13. Doch das gleiche Ritual mit dem über den Kopf
gehaltenen Opferferkel zeigt in dramatischer Bewegtheit der Krater von Cani-
cattini14, nur daß es dort nicht um Reinigung eines Mörders geht, sondern um
Reinigung der Proitos-Töchter vom Wahnsinn; ihm lag eine rituelle Verfehlung
zugrunde, die bald so, bald so erzählt wird; die Kur gilt der Krankheit. Damit
aber wird auch der Fall des Orestes doppeldeutig: auch Orestes ist wahnsinnig,
ist 'krank’. Geht es um Sühne oder Krankenheilung? Die Frage stellen, heißt sie
aufheben: daß in archaischen Gesellschaften soziale und leibseelische Störungen
nicht klar geschieden werden, daß Richten und Heilen ineinandergeht, ist neuer-
dings oft hervorgehoben und dargestellt worden. Verfehlung führt zu Krankheit,
Krankheit beruht auf Verfehlung. Auch das griechische Wort νόσος umfaßt ja
beides15, Leibliches und Soziales, ein breites Spektrum von Störung und Lei-
den. Entsprechend breit ist die Wirkungskraft der Therapie, die der 'wissende’ Spe-
zialist zu finden weiß. Mit anderen Worten: die 'Entsühnung’ des Orestes läßt
sich gleichermaßen, auch schon vor Euripides, als Heilung von einer manifesten
'Krankheit’ auffassen. Dann aber wird die Grenze zwischen 'Babylonien’ und Grie-
chenland durchlässig.
Ein zweisprachiger Ritualtext der Sammlung 'Die schlimmen Krankheitsgeister’,
asakki marsüti, enthält folgende Anweisung für den Beschwörer - sie wird di-
rekt vom Himmelsgott Anu an seinen Sohn Marduk mitgeteilt -: „Ein Ferkel
(nimm und leg es auf den) Kopf des Kranken, reiß sein Herz heraus und (leg
es auf) die Herzgrube des Kranken, mit seinem Blut bestreiche die Seiten des
(Kranken)bettes, das Ferkel zerlege in seine Glieder und breite sie über den
Kranken hin; diesen Menschen reinige und säubere mit dem reinen Wasser des
Apsu, Räucherbecken und Fackel bringe zu ihm, Aschenbrote, zweimal sieben,
lege an der Außentüre nieder; gib das Ferkel als Ersatz für ihn, gib Fleisch wie
12 Louvre K 710; A. D. Trendall, A. Cambitoglou, The Red-Figured Vases of Apulia I
(1978) nr. 4/229; G. Schneider-Hermann AK 13 (1970) 59, T. 30, 1; R. R. Dyer, The
Evidence for Apollo Purification Rituals at Delphi and Athens, JHS 89 (1969) 38-56;
dort auch weitere Vasenbilder.
13 Farnell (1911) 129f. Mesopotamische Blutrituale sind zusammengestellt von L. Cagni in:
Sangue e Antropologia Biblica ed. F. Vattioni (1981) 74-6, und R. Gelio ib. 438-45.
14 E. Langlotz, Μ. Hirmer, Die Kunst der Westgriechen (1963) 24; A. D. Trendall, The
Red-figured Vases of Lucania, Campania and Sicily (1967) 602 nr. 103; AK 13 (1970)
59f., T. 30, 2. Dazu ein Cameo der Coll. Fould, RML II 2574. Zum Proitidenmythos
Burkert (1972a) 192f.
15 Vgl. Soph. Tr. 1235: έξ άλαστόρων νοσοϊ. Die Frage nach der Ursache einer Krankheit
richtet sich an 'Seher, Priester, Traumdeuter’, II. 1, 62.
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des Aischylos12: Apollon selbst hält das Sühne-Ferkel direkt über den Kopf des
Befleckten, das Blut wird direkt auf sein Haupt fließen, läßt sich aber auch wieder
beseitigen; Schuld wird waschbar.
Reinigung von Blut durch Blut in dieser Form ist in 'Babylonien’ nicht be-
zeugt, wie Famell feststellte13. Doch das gleiche Ritual mit dem über den Kopf
gehaltenen Opferferkel zeigt in dramatischer Bewegtheit der Krater von Cani-
cattini14, nur daß es dort nicht um Reinigung eines Mörders geht, sondern um
Reinigung der Proitos-Töchter vom Wahnsinn; ihm lag eine rituelle Verfehlung
zugrunde, die bald so, bald so erzählt wird; die Kur gilt der Krankheit. Damit
aber wird auch der Fall des Orestes doppeldeutig: auch Orestes ist wahnsinnig,
ist 'krank’. Geht es um Sühne oder Krankenheilung? Die Frage stellen, heißt sie
aufheben: daß in archaischen Gesellschaften soziale und leibseelische Störungen
nicht klar geschieden werden, daß Richten und Heilen ineinandergeht, ist neuer-
dings oft hervorgehoben und dargestellt worden. Verfehlung führt zu Krankheit,
Krankheit beruht auf Verfehlung. Auch das griechische Wort νόσος umfaßt ja
beides15, Leibliches und Soziales, ein breites Spektrum von Störung und Lei-
den. Entsprechend breit ist die Wirkungskraft der Therapie, die der 'wissende’ Spe-
zialist zu finden weiß. Mit anderen Worten: die 'Entsühnung’ des Orestes läßt
sich gleichermaßen, auch schon vor Euripides, als Heilung von einer manifesten
'Krankheit’ auffassen. Dann aber wird die Grenze zwischen 'Babylonien’ und Grie-
chenland durchlässig.
Ein zweisprachiger Ritualtext der Sammlung 'Die schlimmen Krankheitsgeister’,
asakki marsüti, enthält folgende Anweisung für den Beschwörer - sie wird di-
rekt vom Himmelsgott Anu an seinen Sohn Marduk mitgeteilt -: „Ein Ferkel
(nimm und leg es auf den) Kopf des Kranken, reiß sein Herz heraus und (leg
es auf) die Herzgrube des Kranken, mit seinem Blut bestreiche die Seiten des
(Kranken)bettes, das Ferkel zerlege in seine Glieder und breite sie über den
Kranken hin; diesen Menschen reinige und säubere mit dem reinen Wasser des
Apsu, Räucherbecken und Fackel bringe zu ihm, Aschenbrote, zweimal sieben,
lege an der Außentüre nieder; gib das Ferkel als Ersatz für ihn, gib Fleisch wie
12 Louvre K 710; A. D. Trendall, A. Cambitoglou, The Red-Figured Vases of Apulia I
(1978) nr. 4/229; G. Schneider-Hermann AK 13 (1970) 59, T. 30, 1; R. R. Dyer, The
Evidence for Apollo Purification Rituals at Delphi and Athens, JHS 89 (1969) 38-56;
dort auch weitere Vasenbilder.
13 Farnell (1911) 129f. Mesopotamische Blutrituale sind zusammengestellt von L. Cagni in:
Sangue e Antropologia Biblica ed. F. Vattioni (1981) 74-6, und R. Gelio ib. 438-45.
14 E. Langlotz, Μ. Hirmer, Die Kunst der Westgriechen (1963) 24; A. D. Trendall, The
Red-figured Vases of Lucania, Campania and Sicily (1967) 602 nr. 103; AK 13 (1970)
59f., T. 30, 2. Dazu ein Cameo der Coll. Fould, RML II 2574. Zum Proitidenmythos
Burkert (1972a) 192f.
15 Vgl. Soph. Tr. 1235: έξ άλαστόρων νοσοϊ. Die Frage nach der Ursache einer Krankheit
richtet sich an 'Seher, Priester, Traumdeuter’, II. 1, 62.