Metadaten

Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0070
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
60

Walter Burkert

sein Fleisch, Blut wie sein Blut: sie (sc. die Dämonen) sollen es nehmen; das
Herz, das du auf die Herzgrube gelegt hast, gib wie sein Herz, sie sollen es
nehmen“ (Lücke) „Das Ferkel sei seine Stellvertretung. Möge der böse Geist,
der böse Dämon beiseitetreten! Möge der freundliche Geist, der freundliche
Dämon zugegen sein!“16
Dieses Ritual ist nicht identisch mit dem, was wir für Orestes und die Proitiden
uns vorzustellen veranlaßt sind, hat aber doch so viele Ähnlichkeiten, daß es
einem flüchtigen Beobachter zum Verwechseln ähnlich erscheinen muß: die Si-
tuation der Krankheit, der 'wissende’ Spezialist, das Ferkel als Opfertier, Schlach-
ten und Blutkontakt, dann Reinigung mit Wasser. Fackel und Räucherbecken
gehören auch zum Apparat des griechischen Reinigungspriesters17. Auffallend be-
tont ist im mesopotamischen Text die Funktion des 'Ersatzes’, worauf zurück-
zukommen ist. Am genauesten entspricht dem ein Ritual gegen Hexen, striges,
de facto gegen eine Kinderkrankheit, wie es Ovid im Zusammenhang der Car-
mentalia beschreibt: wiederum ist es ein Ferkelopfer, das die Göttin Carmenta
selbst exemplarisch vorführt, mit der Formel „nehmt das Herz für das Herz,
Eingeweide für Eingeweide, dieses Leben geben wir euch für ein besseres“18.
Handelt es sich hier um Spontanparallelen auf Grund von 'Elementargedanken’,
oder sind im niederen Bereich der 'Hexen’ und der Magie die Kulturschranken
durchlässiger als in der hohen Kultur?
Betrachtet man Orestes als einen Fall von Krankheit, νόσος, so ist eben seine
'Krankheit’ in besonderem Maße personalisiert, als Ansturm von Dämonen aus-
gemalt. Die Erinyen sind vorgestellt wie Raubtiere, 'Hunde’, die sein Blut aus-
saugen, seine Lebenskraft auszehren wollen. Merkwürdigerweise erscheint einmal
bei Homer Krankheit allgemein als 'Ansturm eines Daimon’19. Von dämonischen
und göttlichen 'Angriffen’ (έφοδοι) sprechen auch jene Magier, die der Verfasser
der Schrift 'Von der Heiligen Krankheit’ bekämpft. Geläufig, ja grundlegend ist
die Vorstellung von den raubtierhaften, nach Fraß gierigen Dämonen in der meso-
potamischen Heil-Magie. Doch fehlt dort auch nicht der sachlichere Begriff vom
'Fluch des Mordes’, der durch ein Ritual im 'Waschhaus’ beseitigt werden muß20.
Trotzdem bleibt bestehen, daß die besondere Funktion der Mordsühne, für die
Orestes Modellfall ist, daß das System der Reinigungen im archaischen Blut-
recht der Griechen nicht als solches 'babylonischer’ Import ist; insoweit ist Far-
nell durchaus Recht zu geben. Doch spricht dies nicht gegen einen Zusammen-
hang, im Gegenteil. Im Zweistromland war Blutschuld seit ungewöhnlich langer
16 Thompson II (1904) 16-21; Meissner II (1925) 222.
17 Spöttische Beschreibung der Proitiden-Reinigung bei Diphilos Fr. 126: δαδί μια σκίλλη τε
μια ... θείω τ’ άσφάλτω τε πολυφλοίσβω τε ϋαλάσση.
18 Ον. Fast. 6, 158-62.
19 Od. 5, 396 στυγερός δε οί έχραε δαίμων. - Aisch. Cho. 1054; Eum. 264-7. II 6, 2.
211 arrat saggaste, Surpu 5, 48f. Näher noch ist dem Griechischen das Alte Testament:
das vergossene Blut 'schreit’ von der Erde, Gen. 4, 10, wie Aisch. Cho. 400-404.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften