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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0071
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Die orientalisierende Epoche

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Zeit durch die staatliche Gesetzgebung eingefangen und reglementiert, war inso-
fern kein Problem; unbeeinflußbar durch Gesetze waren aber die individuellen
Leiden, Krankheiten, hinter denen eine juristisch nicht faßbare Schuld zu stehen
scheint. Dies war der Bereich der Praktiker, der Beschwörungspriester. In Grie-
chenland traf solche Praxis nicht nur auf private Bedürfnisse gleicher Art, sondern
darüber hinaus auf ein Vakuum, was 'soziale Krankheiten’, Störungen der Gemein-
schaft zumal durch Mord und Blutvergießen betraf. So konnte die magische
'Therapie’ zu einer öffentlichen Bedeutung kommen, die im Bereich östlicher
Verwaltungsbürokratie undenkbar war. Bei den Griechen fehlte die Eindeutigkeit
von Herrschermacht und -recht: Ungewißheit, Unsicherheit ist auch hier das Pendant
der Freiheit. So gab es die beunruhigenden Fälle der 'Krankheit’ einer Stadt und
das Bedürfnis nach heilender Sühnung; so wurde Epimenides von Kreta nach
Athen berufen21. Die Differenz zwischen Östlichem und Griechischem ist also
allerdings kulturspezifisch, was aber nicht gegen 'Einfluß’ und 'Übernahme’
spricht: eben der 'Import’ mußte im neuen Kontext eine neue Funktion ge-
winnen; die rituellen Praktiken selbst, wie sie von östlichen Beschwörern seit
langem geübt wurden, brauchten sich deswegen kaum zu ändern.
'Reinigung’ ist ein Elementaranliegen, das auch in religiöser Formung weltweit
seine Rolle spielt; ähnliche Formulierungen, ähnliche Prozeduren sind zu erwarten:
„Geh hinaus, Böses! Komm herein, Wohlergehen“22 ist ein sehr allgemeiner
Wunsch. Die detaillierte Übereinstimmung von Mesopotamischem und Griechi-
schem ist trotzdem bemerkenswert, in diesem Fall wie in anderen Einzelheiten. Hier
wie dort fürchtet man schon den bloßen Kontakt mit unreinen Personen oder
unreinen Stoffen: „Er ist mit einer Frau mit unreinen Händen in Kontakt ge-
kommen, er ist mit einem Mann mit unreinen Händen in Kontakt gekommen,
seine Hand hat einen unreinen Körper berührt“, dies gehört zu den Vermutun-
gen des Beschwörers im Krankheitsfall23. Bei der Reinigung spielen, neben Ferkel-
blut, Fackel, Wasser der Tiefe auch Zweige eine bezeichnende Rolle. Im Ge-
dicht des Mannes, der seine Heilung von Krankheit feiert, 'Ich will preisen den
Herrn der Weisheit’, wird ein Hoffnung spendender Traum geschildert: „Im Traum
sah ich (...) einen bestimmten Mann (...); einen Tamariskenzweig, ein Wasser-
gefäß hielt er in der Hand... Er erhob das Wasser, er sprengte es über mich, die
Beschwörung des Lebens rezitierte er, er salbte mich“24. Daneben die Ursprungs-
legende von Didyma: Branchos, der apollinische Seher, befreite die Milesier von
21 - II 1, 10. Vgl. Parker (1983) 125f.
22 Inschrift auf magischen Figuren: Rittig (1977) 188-94; ganz ähnlich beim Ritual der 'Aus-
treibung des Heißhungers’ in Chaironeia: έξω βουλιμον· έσω δέ πλούτον καί ύγίειαν,
Plut. q. conv. 694 F (diesen Hinweis verdanke ich R. Stucky).
23 Thompson II (1904) 138-41; vgl. AT Lev. 5, 2f.; Aisch. Eum. 285: erst nach der Reini-
gung gibt es άβλαβης συνουσία mit Orestes.
24 'Lüdlül bei nemeqi’ III 23-8, Lambert (1960) 48f., übersetzt ANET 436, Castellino
(1977) 487.
 
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