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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0079
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Die orientalisierende Epoche

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Reinigungsriten aufgezeichnet; dem Inhalt nach kann sie wesentlich älter sein31. Es
geht hier nur um den Abschnitt, der Ικεσιών überschrieben ist. Man glaubte
allgemein das Wort ΐκέσιος wohl zu kennen, 'der Schutzflehende’, und so
haben die Interpreten kaum daran gezweifelt, daß eben die Behandlung von
Schutzflehenden, ίκέται, hier geregelt sei. Und doch: unter dieser Voraussetzung
müssen die Bestimmungen im einzelnen über die Massen abstrus erscheinen.
Es ist kein Zufall, daß John Gould in seiner vorzüglichen Behandlung der Hikesie
den Text von Kyrene nicht berücksichtigt hat32. Drei Fälle werden in der Wei-
sung für Kyrene unterschieden: zunächst ein 'Zugesandter’, ΐκέσιος έπακτός. Hier
scheint das Hauptproblem zu sein, zu ermitteln, wer ihn 'gesandt’ hat. „Wenn
man weiß, von wem er einem zugekommen ist, wird man ihn dreimal am Tag
namentlich nennen; wenn er im Land gestorben oder anderswo verschollen ist,
wird man ihn, falls bekannt, mit Namen nennen, andernfalls mit der Formel 'du
Mensch, ob du nun Mann oder Frau bist’. Man stellt Bilder her, ein männ-
liches und ein weibliches, aus Holz oder Lehm, nimmt sie im Haus auf und setzt
ihnen einen Teil von allem vor. Wenn du getan hast, was Brauch ist, dann bringe
sie in einen Wald, wo kein Ackerbau betrieben wird, und stoße sie in den Boden,
die Bilder und ihre 'Teile’ (von der Mahlzeit)“33.
Daß man dieses Ritual je für Entsühnung eines 'schutzflehenden’ Menschen
halten konnte, ist eigentlich kurios; um einen solchen Menschen scheint sich
niemand zu kümmern; nur von einem offenbar nicht Anwesenden, Bekannten
oder Unbekannten ist die Rede, der einem 'zugeschickt’ hat, was man offen-
sichtlich dringend wieder los sein will. Sucht man zu dem tatsächlichen Verfah-
ren, wie es im zitierten Passus mit aller Deutlichkeit beschrieben wird, ein Gegen-
stück, so liefert es die akkadische Zauberliteratur: Da wird, wiederum zur Heilung
eines Kranken, ein Bild „von jeglichem Bösen“ hergestellt, auf dem Dach, neben
dem Krankenbett, aufgestellt und drei Tage lang bewirtet. Dann aber wird das
Bild unter Beschwörungen im schon bekannten Topf verschlossen, weggetragen
und in „verfallenen Wüsteneien“ begraben34. Die Entsprechung im Ablauf -
Herstellung einer Figur, Bewirtung, Wegschaffen in die Wüstenei - ist perfekt;
und plötzlich wird das Wort 'zugesandt’ erhellt: έπαγωγή ist ja eine bekannte

31 S. Ferri Notiziario Archeologico 4 (1927) 91-145; SEG 9 (1944) 72; U. v. Wilamowitz-
Moellendorff, Heilige Gesetze, Eine Urkunde aus Kyrene, SB Berlin (1927) 155-76;
G. I. Luzzato, La Lex Cathartica di Cirene (1936); LSS 115; H. Jeanmaire REG 58
(1945) 66-89; J. Servais BCH 84 (1960) 112-47; Parker (1983) 332-51.
32 J. Gould, Hiketeia, JHS 93 (1973) 74-103.
33 LSS 115 B 35-9: κολοσδς ποιήσαντα έρσενα και ϋήλεια[ν] ή καλίνος ή γαΐνος ύποδεξά-
μενον παρτιϋ[έ]μεν τό μέρος πάντων, έπεϊ δε κα ποίησες τά νομιζόμενα, φέροντα ές ΰλαν
άεργδν έρε[ΐ]σαι τάς κολοσδς και τά μέρη. - Beschwörung eines Geistes „männlich oder
weiblich“ Maqlü I, 73-86 = Castellino (1977) 616; II 38-49 = 620; II 108-110 = 622f.;’
II 131 = 623; vgl. 632, 28-30.
34 Ebeling (1931) 80-2, nr. 21 Vs. 1-39; vgl. Ebeling ib. 82f.; 84f.; Rs. 23-32.
 
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