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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0083
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Die orientalisierende Epoche

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6. Ersatzopfer
Von Verfolgungsangst gepackt, sind Menschen allgemein und natürlicherweise er-
leichtert, wenn ein anderes Wesen an ihrer Statt vom 'Verhängnis’ ereilt wird.
Ersatz- oder Substitutionsopfer sind verbreitet1. Sie treten besonders in den Vor-
dergrund in Mesopotamien, weil dort Bedrängnis in die Gestalten raubtierhafter
Dämonen projiziert und so konkretisiert wird2. In Griechenland ist dies weniger
entwickelt. Um so mehr fällt eine Überlieferung aus dem Rahmen, die als Kult-
legende des attischen Heiligtums der Artemis von Munichia erscheint:
Wieder einmal ist es eine Seuche, in der der Zorn der Göttin sich anzeigt. Als
Ursache wird die Tötung eines heiligen Bären angegeben. Die Göttin fordert zur
Sühne das Opfer eines Mädchens. „Embaros versprach, dies zu tun unter der
Bedingung, daß seine Familie das lebenslängliche Priesteramt erhalte. Er schmückte
seine Tochter, verbarg sie selbst aber im Tempel, schmückte eine Ziege mit einem
Gewand wie seine Tochter und opferte sie“. So der Attizist Pausanias3, ganz ähnlich
die Sprichwortsammlung des Zenobios. Genannt war Embaros in Komödien des
Menander.
Es ist offensichtlich, daß diese Erzählung eigentlich ein Ritual beschreibt, ein
Ersatzopfer im Kult der Artemis zwecks Sühnung einer Seuche. Die Parallele
zum mythischen Opfer der Iphigenie liegt auf der Hand, nur daß die Munichia-
Legende die tatsächlichen Manipulationen sehr viel drastischer bezeichnet. Ob
man sie als Beschreibung eines regelmäßig praktizierten Rituals beim Wort nehmen
darf, ist freilich keineswegs sicher. Von einer Familie der *Embaridai und ihrem
Priestertum ist in der attischen Prosopographie nichts Konkretes faßbar. Doch
reine Erfindung anzunehmen, würde den sprichwörtlichen Status des Embaros
noch weniger erklären.
Andernorts gibt es wohlbezeugte Rituale, bei denen ein Tier für den Menschen
eintritt; so die Bestimmung aries subicitur im Zwölftafelgesetz4 in Rom. Die engste
Parallele aber liefert ein mesopotamischer Beschwörungstext.
Es handelt sich auch hier um Krankenheilung. Der Text trägt den Titel „Ersatz
eines Menschen, für Ereskigal“5. Ereskigal ist die sumerisch-akkadische Göttin
der Unterwelt. Als Ersatz dient eine 'unbesprungene Ziege’. Sie wird zum Kranken
ins Bett gelegt und soll mit ihm über Nacht schlafen. Beim Morgengrauen (Text
unsicher) kommt der Beschwörer, wirft die Ziege und den Kranken aus dem Bett
1 Burkert (1979) 70-2; (1981b) 115f.
2 Furlani (1940) 285-305, bes. 290f.; vgl. II 4 bei Anm. 19.
3 Paus. Att. ε 35 Erbse; Zenob. Ath. 1, 8 p. 350 Miller; zur gemeinsamen Quelle (Didy-
mos) Rupprecht RE XVIII 4, 1754f.; vgl. W. Sale RhM 118 (1975) 265-84. - Menander,
Phasma 80 Sandbach; Fr. 368 Koerte.
4 Lex XII tab. VIII 24a, Erklärung bei Festus 347; 351 Μ.
5 Ebeling (1931) 65-9, nr. 15, vgl. Furlani (1940) 294f. RA 38 (1941) 60. Ein ähnlicher,
kürzerer Text Ebeling (1931) 69f. nr. 16. -* II 5,5 zur Libation, II 5, 30 zu Ereskigal.
 
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