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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0088
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Walter Burkert

Delphischen Erddämpfe, die geologisch widerlegt sind, sollten vom Faktum der
Ekstase nicht ablenken. Wie die Ekstase im einzelnen verlief, mag von Fall zu
Fall variiert haben; daß man ein geeignetes Bauernmädchen als Medium wählte,
hat, entgegen manchen gelehrten Äußerungen, nichts Erstaunliches, kommt es
doch eben auf eine spezifische, nicht vorhersehbare Begabung an.
Wenn Famell 1911 schrieb, ekstatische Prophetie sei in Babylon nicht zu fin-
den, was Griechenland vom Osten abhebe4, so ist dies längst widerlegt. Ekstati-
sche Priester und Priesterinnen, mahhu, mahhütu, sind in Mesopotamien ganz
geläufig. Die ausführlichsten Zeugnisse sind in Mari aufgetaucht5. In der Zeit Assar-
haddons aber haben auch in Assyrien ekstatische Frauen, Tempeldienerinnen der
Istar von Arbela, die direkten Botschaften der Göttin an den König verkündigt.
Aus dem Mund der Frau spricht direkt in Ich-Form die Gottheit6.
Die Tradition über die Sibylle oder die Sibyllen reicht von Babylon bis Cumae,
mit deutlichem Schwerpunkt in Kleinasien7. Freilich sind die historischen Vor-
stellungen, die mit den Sibyllen verbunden sind, ganz uneinheitlich, und noch
schwieriger ist es, die alten Traditionen aus dem Späteren herauszuschälen.
Heraklit, der älteste Zeuge, macht keine weiteren Angaben über einen vagen
Hinweis auf TOGO Jahre’ hinaus. Die Sibylle von Marpessa wird vor den Troischen
Krieg gesetzt, die von Erythrai ins 8. Jh.8; die Sibylle von Cumae wird zur Zeit-
genossin des Tarquinius Superbus in Rom9. Dies ist wenigstens insofern ernst zu
nehmen, als die Tradition von Cumae über die Eroberung der Stadt durch die
Osker im 5. Jh. zurückreichen muß.
Seit dem Altertum hat man immer wieder an östliche Herkunft der Sibylle
gedacht; in gewisser Weise tragen ja die Sibyllinenbücher der Kaiserzeit die öst-
liche Opposition gegen Rom. Doch angesichts der allgemeinen Verbreitung me-
dialer Fähigkeiten können für die alte Zeit nur spezifische Details oder aber der
Name eine ostwestliche Ausbreitung beweisen. Es gibt auch eine Babylonische
Sibylle; doch den Sibyllennamen direkt an die 'Schankwirtin’ Siduri, säbitu, an-
zuknüpfen, die Gilgames den Weg zu Utnapistim weist, ist Spielerei10. Ernst zu
4 Famell (1911) 303.
5 F. Ellermeier, Prophetie in Mari und Israel (1968). Grottanelli (1982); AHw 852f.
s.v. mahhu, mahhütu.
6 Jastrow II (1912Ϊ158-65; Luckenbill II (1927) 238-41; ANET 449f. Vgl. auch A. K. Gray-
son, W. G. Lambert JCS 18 (1964) 7-30; W. W. Hall Israel Expl. J. 16 (1966) 231-42.
7 Vgl. Rzach 'Sibyllen’ RE II A 2073-2183.
8 Berühmt scheint die Erythräische Sibylle erst durch ihre 'Wiederentdeckung’ durch eine
Prophetin zur Zeit des Alexanderzugs geworden zu sein, Kallisthenes FGrHist 124 F 14;
vgl. Apollodoros FGrHist 422, Inschriften von Erythrai und Klazomenai II (1973) 224-8.
9 Herkunft und Alter der libri Sibyllini in Rom bleiben umstritten, vgl. R. Bloch in: Neue
Beiträge zur Geschichte der Alten Welt II (1965) 281-92; R. Μ. Ogilvie, A Commen-
tary on Livy I (1965) 654f.
10 A. Peretti, La sibilla babilonese nella Propaganda ellenistica (1943). Andere semitische
Etymologien zu 'Sibylla’ bei O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte
 
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