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Walter Burkert
9. Lamastu, Lamia und Gorgo
Nicht nur Rituale und Beschwörungstexte, auch Amulette gehören zur Tätig-
keit der mesopotamischen Magier. Man findet kleine, schlichte Zylinder und 'Per-
len’ mit einschlägiger Beschriftung1, aber auch sehr auffällige Bildwerke, besonders
Pazuzu-Köpfe2 und Lamastu-Tafeln3. Sie sind, ähnlich den Lebermodellen der
Hepatoskopie, bis Nordsyrien, Ugarit und Cypem verbreitet; weiter im Westen
sind sie bislang anscheinend nicht aufgetaucht, obwohl damit an sich zu rechnen
wäre, so wie jenes 'Humbaba-Gesichf nach Gortyn, die 'Hundeführer’-Statuetten
nach Samos gelangten4. Doch wenn auch der direkte, materielle Beleg noch fehlt,
ist doch nicht daran zu zweifeln, daß solche Figuren auch Griechen der ar-
chaischen Epoche gelegentlich vor Augen standen. Die mesopotamischen Dä-
monen scheinen, auch wenn sie archäologisch nicht direkt in Griechenland zu
fassen sind, doch immaterielle Spuren hinterlassen zu haben.
Bereits bei Sappho war die Schreckgestalt Γελλώ genannt, vor der die Kinder
zittern: man sagt, sie raubt und frißt kleine Kinder5. Bis in die moderne Zeit hat
sich dies in Spuren erhalten. Der Name der Gello läßt sich mit bösem Grinsen,
γελάν, assoziieren, doch stimmt weder die Lautgestalt noch die Bedeutung so
recht dazu. Gallü aber ist eine der geläufigsten sumerisch-akkadischen Benen-
nungen für einen bösen Dämon. Die Entsprechung ist mehrfach schon von Assy-
riologen hervorgehoben und als Entlehnung aus Mesopotamien interpretiert
worden6, die also spätestens ins 7. Jh. fallen müßte. Daß a mit ε wiederge-
geben wird, hat in Azugallatu/Asgelatas und 'Delta’ eine Parallele7.
1 Vgl. Reiner (1960b) bes. 154.
2 F. Thureau-Dangin RA 18 (1921) 192-8; Frank (1941) 15-23; H. W. Saggs, Pazuzu,
AOF 19 (1959/60) 123-7; ANEP 857; Exemplare aus Zincirli: Sendschirli V (1943) 31
Abb. 24/5, T. 12a-d.
3 D. W. Myhrman, Die Labartu-Texte, ZA 16 (1902) 141-200; K. Frank, Babylonische
Beschwörungsreliefs, Leipz. Semitist. Stud. 3,3 (1908); F. Thureau-Dangin, Rituels et
amulettes contre Labartu, RA 18 (1921) 161-98; id. Le voyage de Lamastu aux en-
fers, RA 31 (1934) 120; Frank (1941); F. Koecher, Beschwörungen gegen die Dämonin
Lamastu, Diss. Berlin 1949; L. J. Krusina-Cerny, Three new Amulets of Lamasthu,
Arch. Orientälni 18, 3 (1950) 297-303; H. Klengel, Neue Lamastu-Amulette aus den
Vorderasiatischen Museen zu Berlin, Mitt. d. Inst. f. Orientforsch. 7 (1960) 334-55,
vgl. 8 (1963) 25-9; W. v. Soden AOF 20 (1963) 148; vgl. auch Meissner II (1925) Taf.
Abb. 33/34; Reallexikon der Assyriologie III (1957/71) 32; Leibovici (1971) 92; 95f.
E. Lichty, Demons and Population Control, Expedition 13, 2 (1971) 22-26. Abbildungen
auch RML III 269; ANEP 857.
4 - II 2, 19; II 7, 1.
5 Sappho 178 LP; Hsch.; Maas RE VII 1005f., dort auch Hinweise auf Neugriechisches,
vgl. R. Reitzenstein, Poimandres (1904) 299 und id. ZA 23 (1909) 157-63 (Γυλλώ).
J. C. Lawson, Modern Greek Folktale and Ancient Greek Religion (1964) 176-9.
6 C. Frank ZA (1910) 161-5; Meissner II (1925) 200; vgl. AHw 275.
7 - II 7, 8.
Walter Burkert
9. Lamastu, Lamia und Gorgo
Nicht nur Rituale und Beschwörungstexte, auch Amulette gehören zur Tätig-
keit der mesopotamischen Magier. Man findet kleine, schlichte Zylinder und 'Per-
len’ mit einschlägiger Beschriftung1, aber auch sehr auffällige Bildwerke, besonders
Pazuzu-Köpfe2 und Lamastu-Tafeln3. Sie sind, ähnlich den Lebermodellen der
Hepatoskopie, bis Nordsyrien, Ugarit und Cypem verbreitet; weiter im Westen
sind sie bislang anscheinend nicht aufgetaucht, obwohl damit an sich zu rechnen
wäre, so wie jenes 'Humbaba-Gesichf nach Gortyn, die 'Hundeführer’-Statuetten
nach Samos gelangten4. Doch wenn auch der direkte, materielle Beleg noch fehlt,
ist doch nicht daran zu zweifeln, daß solche Figuren auch Griechen der ar-
chaischen Epoche gelegentlich vor Augen standen. Die mesopotamischen Dä-
monen scheinen, auch wenn sie archäologisch nicht direkt in Griechenland zu
fassen sind, doch immaterielle Spuren hinterlassen zu haben.
Bereits bei Sappho war die Schreckgestalt Γελλώ genannt, vor der die Kinder
zittern: man sagt, sie raubt und frißt kleine Kinder5. Bis in die moderne Zeit hat
sich dies in Spuren erhalten. Der Name der Gello läßt sich mit bösem Grinsen,
γελάν, assoziieren, doch stimmt weder die Lautgestalt noch die Bedeutung so
recht dazu. Gallü aber ist eine der geläufigsten sumerisch-akkadischen Benen-
nungen für einen bösen Dämon. Die Entsprechung ist mehrfach schon von Assy-
riologen hervorgehoben und als Entlehnung aus Mesopotamien interpretiert
worden6, die also spätestens ins 7. Jh. fallen müßte. Daß a mit ε wiederge-
geben wird, hat in Azugallatu/Asgelatas und 'Delta’ eine Parallele7.
1 Vgl. Reiner (1960b) bes. 154.
2 F. Thureau-Dangin RA 18 (1921) 192-8; Frank (1941) 15-23; H. W. Saggs, Pazuzu,
AOF 19 (1959/60) 123-7; ANEP 857; Exemplare aus Zincirli: Sendschirli V (1943) 31
Abb. 24/5, T. 12a-d.
3 D. W. Myhrman, Die Labartu-Texte, ZA 16 (1902) 141-200; K. Frank, Babylonische
Beschwörungsreliefs, Leipz. Semitist. Stud. 3,3 (1908); F. Thureau-Dangin, Rituels et
amulettes contre Labartu, RA 18 (1921) 161-98; id. Le voyage de Lamastu aux en-
fers, RA 31 (1934) 120; Frank (1941); F. Koecher, Beschwörungen gegen die Dämonin
Lamastu, Diss. Berlin 1949; L. J. Krusina-Cerny, Three new Amulets of Lamasthu,
Arch. Orientälni 18, 3 (1950) 297-303; H. Klengel, Neue Lamastu-Amulette aus den
Vorderasiatischen Museen zu Berlin, Mitt. d. Inst. f. Orientforsch. 7 (1960) 334-55,
vgl. 8 (1963) 25-9; W. v. Soden AOF 20 (1963) 148; vgl. auch Meissner II (1925) Taf.
Abb. 33/34; Reallexikon der Assyriologie III (1957/71) 32; Leibovici (1971) 92; 95f.
E. Lichty, Demons and Population Control, Expedition 13, 2 (1971) 22-26. Abbildungen
auch RML III 269; ANEP 857.
4 - II 2, 19; II 7, 1.
5 Sappho 178 LP; Hsch.; Maas RE VII 1005f., dort auch Hinweise auf Neugriechisches,
vgl. R. Reitzenstein, Poimandres (1904) 299 und id. ZA 23 (1909) 157-63 (Γυλλώ).
J. C. Lawson, Modern Greek Folktale and Ancient Greek Religion (1964) 176-9.
6 C. Frank ZA (1910) 161-5; Meissner II (1925) 200; vgl. AHw 275.
7 - II 7, 8.