Die orientalisierende Epoche
81
Neben Gello steht als noch populärere Schreckgestalt die Lamia. Auch sie ist
bereits in archaischer Zeit, bei Stesichoros, bezeugt8: auch sie ist bis in moderne
Folklore lebendig geblieben9. Lamia ist grotesk, widerlich und häßlich über die
Maßen; doch gibt es keine sichere griechische Bilddarstellung. Vor allem traut
man der Lamia zu, daß sie kleine Kinder stiehlt, vielleicht schon im Mutter-
leibe.
Damit nun entspricht die Lamia der gefürchteten Dämonin Lamastu; daß ihr
Name zunächst Labartu gelesen wurde, hat die Namensentsprechung eine Zeit-
lang verdunkelt10. Auch Lamastu wird von den Schwangeren, den Gebärenden,
den Müttern gefürchtet. Man erwehrt sich ihrer mit Zauber: ein Esel, ein Schiff
soll sie hinwegtragen; man stellt darum die Amulett-Täfelchen mit entsprechenden
Bildern her, die direkt vor ihr schützen sollen. Lamastu-Tafeln fanden sich auch
in Ugarit, Boghazköy, Karkemis und Zincirli11. Übrigens gibt es auch auf einem
Siegel die Darstellung eines assyrischen Dämons mit phönikischer Beischrift12,
es gibt auch Lamastu-ähnliche Dämonen im späteren syrischen Zauber-Aber-
glauben13. Die Brücke zwischen 'Babylon’ und Griechenland ist also durchaus
faßbar. In der Tat sagt ein griechisches Zeugnis, die Lamia sei eine Tochter des
phönikischen Belos14, schreibt also der Dämonin eine Herkunft aus dem semi-
tischen Orient zu.
Lamastu hat eine sehr spezielle Ikonographie, die aus den Tafeln und zuge-
hörigen Texten genau bekannt ist: sie ist nackt, hat einen Löwenkopf, Hänge-
brüste, Raubvogelfüße; sie säugt an ihren Brüsten ein Schwein und einen Hund;
oft hält sie je eine Schlange in beiden Händen; oft ist sie im 'Knielaufschema’
dargestellt, was wohl ihre schleunige Flucht ausdrücken soll. Meist ist unter ihr
ein Esel, unter diesem ein Schiff dargestellt, alles für den Abtransport. Zuweilen
erscheinen die Tiere auch losgelöst von der Hauptgestalt, zur Rechten und Linken
gruppiert, im Schema einer 'Herrin der Tiere’15.
8 Stesichoros 220 PMG; Duris FGrHist 76 F 17; Diod. 20, 41, 3; Anspielungen etwa bei
Aristoph. Vesp. 1035; 1177; Pax 758; Fr. 700b. Vgl. Schwenn RE XII 544-6; J. Fonten-
rose, Python (1959) 100-4; Zum Problem von Bilddarstellungen vgl. Vermeule (1977).
9 Stoll RML II 1820f„; Schwenn RE XII 545f.; Lawson (Anm. 5) 173-6.
10 Im Keilschriftzeichen nr. 74 sind mas und bar zusammengefallen. Die Lesung Lamastu
wurde durch einen 1934 publizierten Text gesichert, Frank (1941) 4, 1.
11 Ugarit: J. Nougayrol, Ugaritica VI (1969) 393-408. - Boghazköy: ib. 405. - Karkemis:
Goldman (1961) T. 4, 1. - Zincirli: ib. T. 4,2; Klengel (o. Anm. 3 - 1960) nr. 46/7.
12 Ch. Clermont-Ganneau, Etudes d’archeologie orientale 1 (1895) 85-90; vgl. W. Culican,
Phoenician Demons, JNES 35 (1976) 21-4.
13 H. Gollancz, A Selection of Charms from Syriac Manuscripts, Actes du XI Congres
International des Orientalistes (1897) IV 77-97, hier 80; 85.
14 Schol. Aristoph. Pax 758.
15 Z. B. Meissner II (1925) Tafelabb. 34.
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Neben Gello steht als noch populärere Schreckgestalt die Lamia. Auch sie ist
bereits in archaischer Zeit, bei Stesichoros, bezeugt8: auch sie ist bis in moderne
Folklore lebendig geblieben9. Lamia ist grotesk, widerlich und häßlich über die
Maßen; doch gibt es keine sichere griechische Bilddarstellung. Vor allem traut
man der Lamia zu, daß sie kleine Kinder stiehlt, vielleicht schon im Mutter-
leibe.
Damit nun entspricht die Lamia der gefürchteten Dämonin Lamastu; daß ihr
Name zunächst Labartu gelesen wurde, hat die Namensentsprechung eine Zeit-
lang verdunkelt10. Auch Lamastu wird von den Schwangeren, den Gebärenden,
den Müttern gefürchtet. Man erwehrt sich ihrer mit Zauber: ein Esel, ein Schiff
soll sie hinwegtragen; man stellt darum die Amulett-Täfelchen mit entsprechenden
Bildern her, die direkt vor ihr schützen sollen. Lamastu-Tafeln fanden sich auch
in Ugarit, Boghazköy, Karkemis und Zincirli11. Übrigens gibt es auch auf einem
Siegel die Darstellung eines assyrischen Dämons mit phönikischer Beischrift12,
es gibt auch Lamastu-ähnliche Dämonen im späteren syrischen Zauber-Aber-
glauben13. Die Brücke zwischen 'Babylon’ und Griechenland ist also durchaus
faßbar. In der Tat sagt ein griechisches Zeugnis, die Lamia sei eine Tochter des
phönikischen Belos14, schreibt also der Dämonin eine Herkunft aus dem semi-
tischen Orient zu.
Lamastu hat eine sehr spezielle Ikonographie, die aus den Tafeln und zuge-
hörigen Texten genau bekannt ist: sie ist nackt, hat einen Löwenkopf, Hänge-
brüste, Raubvogelfüße; sie säugt an ihren Brüsten ein Schwein und einen Hund;
oft hält sie je eine Schlange in beiden Händen; oft ist sie im 'Knielaufschema’
dargestellt, was wohl ihre schleunige Flucht ausdrücken soll. Meist ist unter ihr
ein Esel, unter diesem ein Schiff dargestellt, alles für den Abtransport. Zuweilen
erscheinen die Tiere auch losgelöst von der Hauptgestalt, zur Rechten und Linken
gruppiert, im Schema einer 'Herrin der Tiere’15.
8 Stesichoros 220 PMG; Duris FGrHist 76 F 17; Diod. 20, 41, 3; Anspielungen etwa bei
Aristoph. Vesp. 1035; 1177; Pax 758; Fr. 700b. Vgl. Schwenn RE XII 544-6; J. Fonten-
rose, Python (1959) 100-4; Zum Problem von Bilddarstellungen vgl. Vermeule (1977).
9 Stoll RML II 1820f„; Schwenn RE XII 545f.; Lawson (Anm. 5) 173-6.
10 Im Keilschriftzeichen nr. 74 sind mas und bar zusammengefallen. Die Lesung Lamastu
wurde durch einen 1934 publizierten Text gesichert, Frank (1941) 4, 1.
11 Ugarit: J. Nougayrol, Ugaritica VI (1969) 393-408. - Boghazköy: ib. 405. - Karkemis:
Goldman (1961) T. 4, 1. - Zincirli: ib. T. 4,2; Klengel (o. Anm. 3 - 1960) nr. 46/7.
12 Ch. Clermont-Ganneau, Etudes d’archeologie orientale 1 (1895) 85-90; vgl. W. Culican,
Phoenician Demons, JNES 35 (1976) 21-4.
13 H. Gollancz, A Selection of Charms from Syriac Manuscripts, Actes du XI Congres
International des Orientalistes (1897) IV 77-97, hier 80; 85.
14 Schol. Aristoph. Pax 758.
15 Z. B. Meissner II (1925) Tafelabb. 34.