Metadaten

Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0122
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
112

Walter Burkert

Man kann die griechische Fabel mit Hesiods αίνος von Habicht und Nachti-
gall (Erga 203-12) beginnen lassen; zur pointierten Geschichte ausgestaltet tritt
sie mit Archilochos auf. Am besten faßbar ist aus einem seiner angriffigen Ge-
dichte die Fabel vom Adler und vom Fuchs. Ihr Ziel, die Warnung an den
übermütigen Frevler vor der Rache des Schwachen, liegt klar genug zutage. Fuchs
und Adler schlossen einen Vertrag, doch eines Tages frißt der Adler die Jungen
des Fuchses und verhöhnt ihn noch von der uneinnehmbaren Höhe seines Nestes
aus. Der Fuchs ruft Zeus, den mächtigen Wächter über Hybris und Dike - ein
Stück direkter Rede im Gedicht. Die Strafe folgt8. Sehr nahe steht dem ein akka-
discher Text, der nicht eine selbständige Fabel ist, sondern Einleitung der mythi-
schen Erzählung von Etana, der auf einem Adler zum Himmel fliegt. Hier sind
es Adler und Schlange, die einen Vertrag schließen und sich gemeinsam Nahrung
verschaffen und teilen, bis der Adler eben jenen Frevel begeht. Die Schlange
wendet sich an Samas, den Sonnengott, in direkter Rede, ruft ihn als Aufseher
über Recht und Unrecht; die Strafe folgt, dank einer List der Schlange9. Die Art
der Rache freilich ist in beiden Texten ganz verschieden ausgemalt. Es sind
auch nicht die gleichen Tiere im Spiel - wobei die Polarität Schlange - Adler
eine respektable Symboltradition aufweist und insofern als ursprünglich gelten
darf10 -. Von Übersetzung kann also nicht die Rede sein. Und doch ist nicht
nur die Abfolge der Motive, der merkwürdige Bund und sein Bruch gemeinsam,
sondern auch der pathetische Anruf an den himmlischen Gott als Wahrer des
Rechts und Bestrafer des Übergriffs - solch ein Gebet an Zeus ist in Griechen-
land zur Zeit des Archilochos nicht selbstverständlich, während der akkadische
Sonnengott in seiner dort normalen Funktion ins Spiel kommt; daß das Gebet in
den Tierbereich vesetzt wird, wirkt im Akkadischen und im Griechischen gleich
grotesk und merk-würdig. Etana, vom Adler in den Himmel getragen, wird auf
orientalischen Siegeln nicht selten dargestellt; die Vermutung liegt nahe, daß der
Mythos vom Raub des Ganymedes von solchen Darstellungen mit angeregt ist11.
Wie Kenntnis von einem mesopotamischen Text zu Archilochos kommen konnte,

8 Fr. 174-81 West; Aesop Nr. 5 Halm = 1 Perry. Vgl. Williams (1956); I. Trencsenyi-
Waldapfel, Untersuchungen zur Religionsgeschichte (1966) 186-91; H. Freydank, Die Tier-
fabel im Etana-Mythus, Mitt. d. Inst. f. Orientforsch. 17 (1971) 1-13; Rodriguez Adrados
(1979) 319-21. Archaische Fabeln ferner Archilochos Fr. 187 West - Aesop Nr. 81 Perry;
Semonides Fr. 13 - Aesop Nr. 3 Perry.
9 E. Ebeling AOF 14 (1944) 298-303; W. v. Soden WZKM 55 (1959) 59-61; ANET
114-8 und 517; Labat (1970) 294-305; vgl. I. Levin Fabula 8 (1966) 1-63.
10 R. Wittkower, Eagle and Serpent, Journal of the Warburg Institute 2 (1938/9) 293-325;
Ch. Grottanelli Riv. Stud. Fen. 5 (1977) 16-8; B. Garbe, Vogel und Schlange, Zeitschr.
f. Volkskunde 75 (1979) 52-6.
11 Darstellungen auf Siegelzylindern bei Ward (1910) 144 nr. 391-4; Enciclopedia delFArte
Antica s.v. Etana; solche Darstellungen haben aber nicht direkt auf die griechische,
jedenfalls nicht die archaische griechische Kunst gewirkt: der Adlerflug wird erst im
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften