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Burkert, Walter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 1. Abhandlung): Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur: vorgetragen am 8. Mai 1982 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47812#0126
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Walter Burkert

Denn darin treffen sich Spekulation und Praxis in der kosmogonischen Per-
spektive: Es gilt, eine rechte Ordnung von Grund auf zu errichten; um eine Stö-
rung zu beseitigen, muß man ganz von Anfang an noch einmal beginnen. Die
berühmte Verwendung des kosmogonischen Epos 'Enuma elis’ beim Neujahrs-
fest der Stadt Babylon10 ist insofern im gewaltig vergrößerten Rahmen durchaus
parallel zu dem Verfahren, mit dem ein Magier einem individuellen Übel zu Leibe
geht. 'Hohe’ Literatur und Beschwörungen fallen zusammen auf gleichem Niveau;
die praktizierenden Priester sind es, die auch die 'literarischen’ Texte verwalten;
in Ugarit und Sultantepe ließ sich dies im einzelnen nachweisen11.
Ein Doppelgesicht von kathartischer Praxis und spekulativer Mythologie zeigt
im Griechischen besonders die Orphik’12: da sind die Bettelpriester mit ihren
'Weihen’, die Platon geißelt13, da ist der berühmte und umstrittene Mythos vom
Ursprung der Menschen aus dem Ruß der Titanen, die Dionysos zerrissen:
so tragen sie ebenso das Aufrührerische wie das göttliche Element in sich14. Der
notwendige Zusammenhang von beidem zeigt sich aus der Sicht der charismati-
schen Heiler: der Kranke fragt nach dem Ursprung der Plagen, „woher sie ent-
sprungen sind, welches die Wurzel der Übel ist, welchen der Götter sie mit
Opfer versöhnen müssen, um Ruhe von den Leiden zu finden“15; Antwort
sucht Epimenides als Seher in der Vergangenheit16; die generellste Antwort
aber, die über die Probleme des Einzelfalls hinausführt, ist die Deutung der
menschlichen Existenz überhaupt als Folge eines Verbrechens, als Strafe auf
Grund des ältesten μήνιμα von großen Göttern. Noch bei Empedokles geht die
Praxis des Sehers und Heilers mit dem Mythos von der menschlichen Existenz
zusammen: φυγάς ϋεόϋεν και άλητής17. Daß die dionysisch-orphische Anthro-
pogonie explizit erst bei Olympiodor belegt ist, hat immer wieder Bedenken
erregt. Die eigentümlichsten Parallelen liefert aber gerade die Mesopotamische
10 C. J. Gadd in S. H. Hooke, Myth and Ritual (1933) 47-58; Th. H. Gaster, Thespis
(19612) 62-4; Comford - III 1, 12.
11 'Haus des Priesters’ in Ugarit: J. C. Courtois Ugaritica 6 (1969) 91-119 (Lebermodelle
und mythologische Texte); Bibliothek eines Priesters in Sultantepe: W. G. Lambert
RA 53 (1959) 121f.; vgl. Walcot (1966) 47f.
12 Zu den Problemen um die Orphik’ sei auf Burkert (1977) 436-51 und Burkert (1982b)
verwiesen; zum Derveni-Papyrus — II 1, 2.
13 -II 1,9.
14 Olympiodor. In Phaed. p. 41f. Westerink = Orph. Fr. 220; vgl. Burkert (1977) 442f.;
die Zählung von 'vier Monarchien’ bei Olympiodor stimmt mit dem Derveni-Papyrus
überein (Kol. 10,6: Uranos, Sohn der Nacht, als erster König).
15 Eur. Fr. 912, im Zusammenhang einer Totenbeschwörung: τοΐς βουλομένοις άθλους
προμαϋεΐν πόϋεν έβλαστον, τίς ρίζα κακών... Subjekt zu έβλαστον ist doch wohl άθλοι,
doch suggeriert das Verbum eine weitere Perspektive.
16 - II 5, 19.
17 -II 1, 15.
 
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