Metadaten

Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0026
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
16

Eberhard Jüngel

abrupt beginnt, sondern das Dasein bewegt sich immer schon in einem
vorläufigen, dunklen Wissen, das in jedem Verhältnis zu einem Seien-
den mit da ist“26. Aus diesem Wissen und d.h. „aus der jedermann
zugänglichen Selbstbeobachtung ... des ... alltäglichen Lebens“ ent-
steht nach Bultmann Wissenschaft27. Sie ist nichts anderes als „das aus-
drücklich gemachte, ins Bewußtsein erhobene, explizite Wissen, das
schon im Umgang je mit dem betreffenden Gegenstand da ist“28.
Für die wissenschaftliche Explikation des im vorwissenschaftlichen
Lebens Verhältnis zum Gegenstand mitgegebenen Verstehens oder
Wissens ist es allerdings charakteristisch, daß sich dessen Beziehung zu
dem es bisher leitenden Wozu verändert. „In der Wissenschaft wird das
Wissen von seinem Wozu immer mehr gelöst, und zwar zunächst so,
daß es von seinem unmittelbaren Wozu gelöst wird, um als allgemeines
Wissen vorhanden zu sein“. Als solches kann es dann instrumentell
aufs neue und potenziert „in den Dienst eines konkreten Wozu gestellt
... werden, so daß die Wissenschaft als Ganze durch ein Wozu geleitet
ist“29.
Allerdings darf dieses „Wozu“ nicht als Wahrheitskriterium fungie-
ren. Das Kriterium für die Wahrheit wissenschaftlichen Wissens
besteht für Bultmann in dessen Allgemeingültigkeit, die aber nicht
durch Konsens, sondern durch die Erschlossenheit des Gegenstandes
entstehen muß: „... das Wahrheitskriterium ist ... gegeben ... im
Gegenstand selbst“30. D.h., daß Jeder, der den betreffenden Gegen-
stand“ des Wissens „überhaupt sieht,... ihn so sehen“ muß, wie ihn das
Wissen sehen läßt31. Das aber setzt voraus, daß das die Erkenntnis lei-
tende Interesse methodisch sistiert wird. Die wissenschaftliche Gestalt
des Wissens erzeugt die Paradoxie, daß gerade „das Interesse an der
Sache ... das interesselose Hinsehen“, mithin ein Absehen von jedem
Bedeutung haben. Dabei darf freilich der Begriff des Politischen nicht zu eng
gefaßt werden: 1. Er muß den ganzen Bereich des Handelns im Miteinander um-
fassen. 2. Er muß das direkte und indirekte politische Handeln umfassen“. - Ebd.
26 AaO. 42.
27 AaO. 36. Man beachte die Berührung mit F. Schleiermachers These, daß in der
Theologie nichts zugemutet werde, was nicht jeder durch eine gewisse „Selbstbeob-
achtung“ erkennen könne. Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den
Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt, hg. von
M. Redeker, 71960, Bd. 1, § 4,1, 25.
28 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 36.
29 Ebd.
30 AaO. 44.
31 AaO. 45f.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften