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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0027
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Glauben und Verstehen

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konkreten Wozu verlangt32. Die Wissenschaft kann eben dadurch dem
Lebensverhältnis zum Gegenstand kritisch zugute kommen.
Die zum wissenschaftlichen Erkennen gehörende Loslösung von
dem das alltägliche Wissen leitenden Wozu kann allerdings „noch wei-
tergehen“33, sie kann zu weit gehen. Das geschieht dann, wenn die
Gegenstände des Wissens „nur noch als das stillhaltend Betrachtbare
gesehen“ werden und überhaupt nicht mehr „als das, als was sie uns
zunächst begegnen“, in den Blick kommen: nämlich „als die Fülle der
Möglichkeiten für mein Tun und Leiden, für meine Entschei-
dungen“34. Die Wissenschaft wird dann ein menschliches Werk, das
um seiner selbst bzw. um seines Kulturwertes willen Bedeutung hat,
das aber keine Bedeutung mehr für die Sorge hat, in der „es dem Men-
schen um sich selbst geht“3’. Statt die Wissenschaft aus dem menschli-
chen Lebensverhältnis zur Sache zu verstehen und auf dieses wieder
zurückzubeziehen, versteht sich der Mensch nunmehr aus der Wissen-
schaft als seinem Werk und rechtfertigt seine Existenz durch dieses
Werk und seinen kulturellen Wert: „Er versteht sich aus dem, was er
macht und leistet... Die Wissenschaft ist Selbstzweck geworden, und
will man das verstehen und begründen, so nennt man sie einen Kultur-
wert. Dabei ist Kultur als das Gesamtwerk, die Gesamtleistung des
Menschen verstanden, die für den Menschen zum Götzen geworden
ist, weil sie sein wirkliches Leben verschlingt“36.
Bultmanns nicht gerade zimperliche Kritik am Verständnis der Wis-
senschaft als Kulturwert hat theologische Wurzeln. Man hätte diese
Kritik noch nicht angemessen erfaßt, wenn man sie nur als Marburger
Variante der in Frankfurt betriebenen Kritik der instrumentellen Ver-
nunft oder gar nur als Variante der damals blühenden Kulturkritik auf-
fassen würde. Die theologischen Wurzeln deutet Bultmann selber an,
32 AaO. 36f., Anm. 6. In seinem Aufsatz Theologie als Wissenschaft (ZThK 81, 1984,
447-469, 450) charakterisiert Bultmann die als „Enthüllung eines Gegenstands-
gebietes“ bestimmte Wissenschaft in vierfacher Hinsicht: „1. Sie ist objektivierendes
Verfahren. 2. Sie ist objektiv als ein interesseloses und vorurteilsloses Sehen des
Gegenstandes in seiner Ganzheit und seinem inneren Zusammenhang. 3. Sie
wurzelt in einem vorwissenschaftlichen Verhältnis zu ihrem Gegenstand und ent-
wickelt methodisch das in diesem Verhältnis gegebene Verständnis. 4. Sie hat je nach
dem ihr eigenen Gegenstandsgebiet ihre besondere Methode“.
33 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 36.
34 AaO. 37. Bultmann nennt als Beispiel die „Entseelung der Natur in der modernen
Naturwissenschaft“. - Ebd., Anm. 10.
35 Ebd.
36 Ebd.
 
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