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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0028
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Eberhard Jüngel

wenn er die Verselbständigung des menschlichen Werkes Wissenschaft
zum Selbstzweck als eine vom Menschen vollzogene „Verlegung des
Verständnisses seiner selbst aus der lebendigen Existenz in das Werk“
bezeichnet und als deren Motiv die „Flucht vor sich selbst“ nennt37.
Dabei ist entscheidend, daß er mit dem Ausdruck „Flucht vor sich
selbst“ nicht etwa einer gegenstandslosen oder weltlosen Beschäfti-
gung des Menschen mit sich selbst das Wort reden will. Die „Verlegung
des Verständnisses seiner selbst aus der lebendigen Existenz in das
Werk“ wird vielmehr dahin charakterisiert, daß das menschliche
Wissen „seine Gegenstände verliert“38. Der Vorgang ist von Bultmann
ganz offensichtlich aus der Sicht der Rechtfertigungslehre aufgefaßt
und kritisiert worden. Und in der Tat leitet das reformatorische Ver-
ständnis der Rechtfertigung des Menschen per fidem sine operibus
legis (Röm 3,28) nicht erst Bultmanns Bestimmung des Verhältnisses
von Glauben und Verstehen, sondern schon seine Auffassung vom
Wesen des Verstehens überhaupt.
Für diese Auffassung ist es kennzeichnend, daß sie die aristotelische
Unterscheidung von theoretischen und praktischen Wissenschaften in
einer den Begriff des Praktischen umbauenden Weise unterläuft. Daß
Bultmann sich dabei in der Tradition reformatorischen Denkens befin-
det, wird besonders deutlich, wenn wir uns nun seiner Erörterung der
Theologie als Wissenschaft zuwenden. Denn im Streit um das rechte
Selbstverständnis der Theologie kommt seine Auffassung vom Wesen
des Verstehens zum Austrag. Dabei spielt die Frage, inwiefern der auch
der Theologie vorgegebene Lebensbezug zum Gegenstand ihres Wis-
sens diese dazu nötigt, sich als praktische Wissenschaft zu verstehen,
eine entscheidende Rolle.

37 AaO. 39.
38 AaO. 37; vgl. 42: „Ein echtes Wissen kann es nur geben, wo es durch seinen Gegen-
stand bestimmt ist, und wo Wahrheit die Erschlossenheit des Gegenstandes bedeu-
tet. Die Bestimmtheit durch den Gegenstand aber ist dem Wissen nur zu eigen, wo es
... selbst im Verhältnis des Menschen zum Gegenstand begründet ist, bzw. dieses
Verhältnis mit ist“.
 
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