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Eberhard Jüngel
wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur
Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind“68. Im Falle der
Theologie ist diese praktische Aufgabe die Leitung der Kirche, so daß
die christliche Theologie definiert wird als „der Inbegriff deijenigen
wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz
und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen
Kirche ... nicht möglich ist“69. Ist Bultmann also tatsächlich, wie ihm
Karl Barth unterstellte, „ein Fortsetzer der großen Tradition des
19. Jahrhunderts und also in neuem Gewand ein echter Schüler
S chleiermachers“?70
Nun, Bultmann selbst hat sich keineswegs so verstanden. Er hatte
zwar - darin seinem Lehrer Wilhelm Herrmann ähnlich - ein viel-
schichtiges und ambivalentes Verhältnis zu Schleiermacher, den er
wegen seines Begriffs vom Christentum als einer positiven Religion und
wegen seiner Polemik gegen deren Entstellung sogar „in die Ahnen-
reihe Jeremia-Kierkegaard“ aufnehmen zu müssen meinte'1. Doch
von Schleiermachers Theologiebegriff hat sich Bultmann ausdrücklich
distanziert. Er bestreitet dessen Voraussetzung, daß „das Wesen des
Christentums ... nur in seinem Zusammenhang mit anderen Glau-
bensweisen erkannt“ wird „und diese wiederum nur 'im Zusammen-
hang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes’“ zu ver-
stehen sind72. Für Bultmann ist Schleiermachers „Voraussetzung von
der Einheit des Geistes, der in geschichtlichen Erscheinungen sich dif-
ferenziert, so daß jedes geschichtliche Phänomen vom Begriff des
menschlichen Geistes her begriffen werden muß“73, nicht nur histo-
risch obsolet geworden74, sondern theologisch unsachgemäß. Seine
Schleiermacher-Kritik ist zwar differenziert, im Vergleich mit der sei-
nerzeit nicht nur in der „dialektischen Theologie“ gängigen Schleier-
68 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung, aaO. 1, § 1.
69 AaO. 2, § 5.
70 K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl
Barth, hg. von H. Bolli, GTB 419, (1968) 21980,302. Vgl. auch: K. Barth, RudolfBult-
mann. Ein Versuch, ihn zu verstehen, ThSt 34,1952,28 u. 42; rfm./KD 1II/2, (1948)
41979, 535 und: Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. von
B. Jaspert, Karl Barth-Gesamtausgabe V/l, 1971, 118 und 200f.
71 R. Bultmann, Brief an Karl Barth vom 31. Dez. 1922, aaO. 12.
72 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 5; vgL: F. Schleiermacher, Kurze Darstel-
lung, aaO. 8f., § 21.
73 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 5.
74 AaO. 7: „Verloren ist der Glaube an das System der Wissenschaft, weil der Glaube an
den 'Geist’ im Sinne des Idealismus vergangen ist“.
Eberhard Jüngel
wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur
Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind“68. Im Falle der
Theologie ist diese praktische Aufgabe die Leitung der Kirche, so daß
die christliche Theologie definiert wird als „der Inbegriff deijenigen
wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz
und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen
Kirche ... nicht möglich ist“69. Ist Bultmann also tatsächlich, wie ihm
Karl Barth unterstellte, „ein Fortsetzer der großen Tradition des
19. Jahrhunderts und also in neuem Gewand ein echter Schüler
S chleiermachers“?70
Nun, Bultmann selbst hat sich keineswegs so verstanden. Er hatte
zwar - darin seinem Lehrer Wilhelm Herrmann ähnlich - ein viel-
schichtiges und ambivalentes Verhältnis zu Schleiermacher, den er
wegen seines Begriffs vom Christentum als einer positiven Religion und
wegen seiner Polemik gegen deren Entstellung sogar „in die Ahnen-
reihe Jeremia-Kierkegaard“ aufnehmen zu müssen meinte'1. Doch
von Schleiermachers Theologiebegriff hat sich Bultmann ausdrücklich
distanziert. Er bestreitet dessen Voraussetzung, daß „das Wesen des
Christentums ... nur in seinem Zusammenhang mit anderen Glau-
bensweisen erkannt“ wird „und diese wiederum nur 'im Zusammen-
hang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes’“ zu ver-
stehen sind72. Für Bultmann ist Schleiermachers „Voraussetzung von
der Einheit des Geistes, der in geschichtlichen Erscheinungen sich dif-
ferenziert, so daß jedes geschichtliche Phänomen vom Begriff des
menschlichen Geistes her begriffen werden muß“73, nicht nur histo-
risch obsolet geworden74, sondern theologisch unsachgemäß. Seine
Schleiermacher-Kritik ist zwar differenziert, im Vergleich mit der sei-
nerzeit nicht nur in der „dialektischen Theologie“ gängigen Schleier-
68 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung, aaO. 1, § 1.
69 AaO. 2, § 5.
70 K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl
Barth, hg. von H. Bolli, GTB 419, (1968) 21980,302. Vgl. auch: K. Barth, RudolfBult-
mann. Ein Versuch, ihn zu verstehen, ThSt 34,1952,28 u. 42; rfm./KD 1II/2, (1948)
41979, 535 und: Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, hg. von
B. Jaspert, Karl Barth-Gesamtausgabe V/l, 1971, 118 und 200f.
71 R. Bultmann, Brief an Karl Barth vom 31. Dez. 1922, aaO. 12.
72 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 5; vgL: F. Schleiermacher, Kurze Darstel-
lung, aaO. 8f., § 21.
73 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 5.
74 AaO. 7: „Verloren ist der Glaube an das System der Wissenschaft, weil der Glaube an
den 'Geist’ im Sinne des Idealismus vergangen ist“.