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Eberhard Jüngel
V. Was ist Theologie?
1. Abgrenzungen
Bultmanns Versuch, die Frage „Was ist Theologie?“ zu beantworten,
vollzieht sich in einer Reihe von Abgrenzungen und Polemiken gegen-
über anderen zeitgenössischen und überlieferten theologischen Ent-
würfen. Diese kritischen Auslassungen sind vorzüglich geeignet, nicht
wenige Mißverständnisse, denen Bultmanns Theologie ausgesetzt war
und noch immer ist, auszuräumen. Es empfiehlt sich deshalb, die wich-
tigsten Frontstellungen zu skizzieren, in denen Bultmann sein eigenes
Verständnis von Theologie polemisch zur Geltung bringt.
Die für seine theologische Biographie entscheidende Abgrenzung
war zweifellos die vom Theologieverständnis der durch seine eigenen
Lehrer repräsentierten sogenannten liberalen Theologie. Bultmann hat
Wert darauf gelegt, daß man - im Gegensatz zu der „fast traditionell
gewordenen Motivierung unserer Arbeit“ - die Entstehung seiner
eigenen, neuen Einsichten nicht auf die Erfahrungen des Ersten Welt-
krieges (und die als Verarbeitung dieser Erfahrungen gedeutete Lek-
türe Dostojewskis und Kierkegaards), sondern auf die eigene Aus-
einandersetzung mit den theologischen Lehrern zurückführen
müsse118. Der Haupteinwand, den Bultmann gegen die liberale Theolo-
gie - wohl wissend, „daß bei manchen einzelnen liberalen Theologen
Motive wirksam waren, die zu ihrer eigenen Überwindung führten, wie
118 Vgl. R. Bultmann, Brief an Erich Foerster [1928], hg. von W. Schmithals (Ein Brief
Rudolf Bultmanns an Erich Foerster), in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hg.
von B. Jaspert, 1984, 70-80, 74: „Ich bin der Meinung, daß, wenn nach der Genesis
unsrer Theologie gefragt werden soll, die innere Auseinandersetzung mit der Theo-
logie unsrer Lehrer eine ungleich größere Rolle spielt als Eindrücke des Krieges
oder der Dostojewskilektüre. Daß Dostojewski und Kierkegaard wirkten, hat seinen
Grund in der theologischen Situation“. Vgl. aaO. 72f.: „Für viele sind freilich die Ein-
drücke des Krieges die Veranlassung zu einer Revision ihrer Daseinsbegriffe gewe-
sen; ich gestehe Ihnen, daß das für mich nicht zutrifft... ich muß Ihnen offen geste-
hen, daß der Krieg für mich kein erschütterndes Erlebnis war“. Vgl. auch die Pre-
digt vom 14.12.1939 (R. Bultmann, Marburger Predigten, 1956, 98), in der es zu
Beginn des Zweiten Weltkrieges ganz entsprechend heißt: „Ob Krieg ist oder nicht, -
die Natur geht ihren festen regelmäßigen Gang der Jahreszeiten“.
Eberhard Jüngel
V. Was ist Theologie?
1. Abgrenzungen
Bultmanns Versuch, die Frage „Was ist Theologie?“ zu beantworten,
vollzieht sich in einer Reihe von Abgrenzungen und Polemiken gegen-
über anderen zeitgenössischen und überlieferten theologischen Ent-
würfen. Diese kritischen Auslassungen sind vorzüglich geeignet, nicht
wenige Mißverständnisse, denen Bultmanns Theologie ausgesetzt war
und noch immer ist, auszuräumen. Es empfiehlt sich deshalb, die wich-
tigsten Frontstellungen zu skizzieren, in denen Bultmann sein eigenes
Verständnis von Theologie polemisch zur Geltung bringt.
Die für seine theologische Biographie entscheidende Abgrenzung
war zweifellos die vom Theologieverständnis der durch seine eigenen
Lehrer repräsentierten sogenannten liberalen Theologie. Bultmann hat
Wert darauf gelegt, daß man - im Gegensatz zu der „fast traditionell
gewordenen Motivierung unserer Arbeit“ - die Entstehung seiner
eigenen, neuen Einsichten nicht auf die Erfahrungen des Ersten Welt-
krieges (und die als Verarbeitung dieser Erfahrungen gedeutete Lek-
türe Dostojewskis und Kierkegaards), sondern auf die eigene Aus-
einandersetzung mit den theologischen Lehrern zurückführen
müsse118. Der Haupteinwand, den Bultmann gegen die liberale Theolo-
gie - wohl wissend, „daß bei manchen einzelnen liberalen Theologen
Motive wirksam waren, die zu ihrer eigenen Überwindung führten, wie
118 Vgl. R. Bultmann, Brief an Erich Foerster [1928], hg. von W. Schmithals (Ein Brief
Rudolf Bultmanns an Erich Foerster), in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hg.
von B. Jaspert, 1984, 70-80, 74: „Ich bin der Meinung, daß, wenn nach der Genesis
unsrer Theologie gefragt werden soll, die innere Auseinandersetzung mit der Theo-
logie unsrer Lehrer eine ungleich größere Rolle spielt als Eindrücke des Krieges
oder der Dostojewskilektüre. Daß Dostojewski und Kierkegaard wirkten, hat seinen
Grund in der theologischen Situation“. Vgl. aaO. 72f.: „Für viele sind freilich die Ein-
drücke des Krieges die Veranlassung zu einer Revision ihrer Daseinsbegriffe gewe-
sen; ich gestehe Ihnen, daß das für mich nicht zutrifft... ich muß Ihnen offen geste-
hen, daß der Krieg für mich kein erschütterndes Erlebnis war“. Vgl. auch die Pre-
digt vom 14.12.1939 (R. Bultmann, Marburger Predigten, 1956, 98), in der es zu
Beginn des Zweiten Weltkrieges ganz entsprechend heißt: „Ob Krieg ist oder nicht, -
die Natur geht ihren festen regelmäßigen Gang der Jahreszeiten“.