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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0057
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Glauben und Verstehen

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Bultmann liegt daran, die der Theologie eigene „Beziehung zur Praxis“
herauszuarbeiten. Dabei wendet er sich gegen die Auffassung, Theolo-
gie sei „die Theorie der Praxis“164, die man als das christliche Handeln
zu bezeichnen pflegt. Theologie vollzieht sich vielmehr „unter Abse-
hen von direkt praktischen Zwecken“. Die Theologie ist praktisch nicht
im Sinne einer Anleitung zum Handeln „in allen möglichen Situatio-
nen“165, sondern aufgrund ihres Gegenstandsbezuges: „... aus dem
lebensmäßigen Verhältnis zu ihrem Gegenstand erwächst“ ihr - wie
jeder echten Wissenschaft - „ihre Möglichkeit zum Praktisch-
werden“166. Dieses lebensmäßige Verhältnis zum Gegenstand „stellt
die Theologie ... nicht erst her, sondern sie setzt es voraus, sie erinnert
daran, sie bildet es aus“167.
Doch damit ist nur erst ein Hinweis auf das Verständnis der Theolo-
gie als einer praxisbezogenen Wissenschaft gegeben. Denn was im
Zusammenhang der Theologie praktisch heißt, ist noch keineswegs
geklärt. Das lebensmäßige Verhältnis der Theologie zu ihrem Gegen-
stand bedarf gerade hinsichtlich der Art und Weise, wie dieser Gegen-
stand selber praktisch ist, der Klärung. Was also heißt praktisch im
Zusammenhang christlicher Theologie?
Die Antwort, die dem Werk Bultmanns zu entnehmen ist, steht in
der Tradition reformatorischer Theologie. Deren Selbstverständnis als
einer theologia practica scheint vordergründig bestimmt durch den
Gegensatz zum Verständnis der Theologie als einer theoretischen Wis-
senschaft. So konnte man z.B. Martin Luther, bei Tische redend, erklä-
ren hören: „Die wahre Theologie ist praktisch... Die spekulative Theo-
sel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877-
1897, hg. von S. v. d. Schulenburg, Philosophie und Geisteswissenschaft, Bd. 1,
1923, 42. Der Satz geht auf den gegen Transzendenzerfahrungen „gesteigerten und
bereicherten Lebens“ ins Feld geführten Einwand ein: „Naturwissenschaftlich nicht
zu verwerthen!“ Yorck konzediert, daß das „Praktisch werden können ... ja nun
allerdings der eigentliche Rechtsgrund aller Wissenschaft“ sei, um dann gegenwen-
dig fortzufahren: „Aber die mathematische Praxis ist nicht die alleinige. Die prak-
tische Abzweckung unseres Standpunkts ist die paedagogische, im weitesten und
tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie ..." - AaO. 42f. Der
Begriff der Praxis wird also einer fundamentalen Differenzierung unterworfen. Eine
nicht weniger fundamentale Differenzierung im Begriff des Praktischen verlangt die
theologische Bejahung der Einsicht, daß das Praktisch-werden-Können der Rechts-
grund aller Wissenschaft sei.
164 R. Bultmann, Zur Frage der Reform des theologischen Studiums, aaO. 296.
165 AaO. 297.
166 AaO. 296.
167 R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 161.
 
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