Klio in Moskau
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rung stand damals vor gewaltigen Aufgaben. Sie hatte mit der Zwangs-
kollektivierung und dem ersten Fünfjahresplan (1928-1932) eine
Umwälzung größten Stils in Gang gesetzt, eine „Revolution von oben“,
die den Sozialismus in der UdSSR zum Sieg zu fuhren versprach. Auf
dem Lande waren von der Liquidierung der privatbäuerlichen Agrar-
verfassung mehr als hundert Millionen Menschen betroffen. Sie hatten
bisher an der Peripherie des proletarischen Staates gelebt. Jetzt gerie-
ten sie, binnen weniger Jahre, in einer Zeit des Massenhungers, Mas-
sensterbens und der terroristischen Exzesse, aus der dörflichen
Lebenssphäre in die bürokratisch regulierte Arbeitsorganisation der
Kollektivwirtschaften, in die dröhnende Traktoren- und Maschinen-
welt des Sowjetreiches.16 Die Frage blieb, wie diese Bevölkerung ideo-
logisch abzurichten sei. Naturgemäß boten sich dafür vorab die Klas-
senbegriffe und Wertmuster an, die aus der bolschewistischen Parteige-
schichte überkommen waren. Aber sie reichten doch für die Gleich-
schaltung der neuen Gesellschaft nicht aus. Patriotische Orientierung
wurde aktuell, und daran mitzuwirken sollte die „heilige Pflicht“ der
Vaterländischen Geschichte sein.
Das Vokabular war vertraut, es forderte nicht bloß Kopfarbeit, son-
dern agitierte die Herzen und die Sinne. Angeknüpft wurde an überlie-
ferte Loyalitäten und Gefühlswerte, an Begriffe, die „den Massen“, um
die es ging, zugänglicher waren als die geschichts- und gesellschafts-
theoretische Terminologie marxistischer Provenienz: Volk und Vater-
land, Heimat und Muttererde, ja bald auch die Gemeinsamkeit
des Blutes, formten ein eigentümliches Normenbündel: mit der Ver-
klärung der Macht, der Opfer und Siege, mit dem Fetischismus der gro-
ßen Zahl, dem aufkommenden Stalinkult, dem Durcheinander von
Pathos und Sentimentalität, von Großspurigkeit und Sehnsucht nach
Geborgenheit.17 Auch religiöse Bedürfnisse und Formen wurden, da
Frömmigkeit und Kirche nichts mehr galten, umzuleiten versucht,
besonders delikat im Ikonenstil der Palech-Miniaturen. Hier, auf
16 Zum Forschungsstand vgl. Gottfried Schramm, Industrialisierung im Eiltempo und
kollektivierte Landwirtschaft (1928/29-1941), in: Handbuch der Geschichte Ruß-
lands, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 782-908, ferner meinen Problemaufriß: Stalin und
der Stalinismus, in Gerhard Schulz (Hg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre, Göt-
tingen, 1985.
17 Bei der Untersuchung dieser „Kulturrevolution“ ist die westliche Forschung über
die Phase des ersten Fünfjahresplanes nicht nennenswert hinausgekommen. Vgl.
Sheila Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia 1928-1931, Bloomington
1978.
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rung stand damals vor gewaltigen Aufgaben. Sie hatte mit der Zwangs-
kollektivierung und dem ersten Fünfjahresplan (1928-1932) eine
Umwälzung größten Stils in Gang gesetzt, eine „Revolution von oben“,
die den Sozialismus in der UdSSR zum Sieg zu fuhren versprach. Auf
dem Lande waren von der Liquidierung der privatbäuerlichen Agrar-
verfassung mehr als hundert Millionen Menschen betroffen. Sie hatten
bisher an der Peripherie des proletarischen Staates gelebt. Jetzt gerie-
ten sie, binnen weniger Jahre, in einer Zeit des Massenhungers, Mas-
sensterbens und der terroristischen Exzesse, aus der dörflichen
Lebenssphäre in die bürokratisch regulierte Arbeitsorganisation der
Kollektivwirtschaften, in die dröhnende Traktoren- und Maschinen-
welt des Sowjetreiches.16 Die Frage blieb, wie diese Bevölkerung ideo-
logisch abzurichten sei. Naturgemäß boten sich dafür vorab die Klas-
senbegriffe und Wertmuster an, die aus der bolschewistischen Parteige-
schichte überkommen waren. Aber sie reichten doch für die Gleich-
schaltung der neuen Gesellschaft nicht aus. Patriotische Orientierung
wurde aktuell, und daran mitzuwirken sollte die „heilige Pflicht“ der
Vaterländischen Geschichte sein.
Das Vokabular war vertraut, es forderte nicht bloß Kopfarbeit, son-
dern agitierte die Herzen und die Sinne. Angeknüpft wurde an überlie-
ferte Loyalitäten und Gefühlswerte, an Begriffe, die „den Massen“, um
die es ging, zugänglicher waren als die geschichts- und gesellschafts-
theoretische Terminologie marxistischer Provenienz: Volk und Vater-
land, Heimat und Muttererde, ja bald auch die Gemeinsamkeit
des Blutes, formten ein eigentümliches Normenbündel: mit der Ver-
klärung der Macht, der Opfer und Siege, mit dem Fetischismus der gro-
ßen Zahl, dem aufkommenden Stalinkult, dem Durcheinander von
Pathos und Sentimentalität, von Großspurigkeit und Sehnsucht nach
Geborgenheit.17 Auch religiöse Bedürfnisse und Formen wurden, da
Frömmigkeit und Kirche nichts mehr galten, umzuleiten versucht,
besonders delikat im Ikonenstil der Palech-Miniaturen. Hier, auf
16 Zum Forschungsstand vgl. Gottfried Schramm, Industrialisierung im Eiltempo und
kollektivierte Landwirtschaft (1928/29-1941), in: Handbuch der Geschichte Ruß-
lands, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 782-908, ferner meinen Problemaufriß: Stalin und
der Stalinismus, in Gerhard Schulz (Hg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre, Göt-
tingen, 1985.
17 Bei der Untersuchung dieser „Kulturrevolution“ ist die westliche Forschung über
die Phase des ersten Fünfjahresplanes nicht nennenswert hinausgekommen. Vgl.
Sheila Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia 1928-1931, Bloomington
1978.