Metadaten

Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0016
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
14

Dietrich Geyer

Sie hat, was sich leicht begreifen läßt, für die Geschichte vieler großer
und kleiner Vaterländer Platz zu bieten. Die Sowjetunion ist bekannt-
lich ein Vielvölkerstaat - und dies per definitionem, in programmati-
schem und prinzipiellem Sinn. Vaterländische Geschichte ist also als
multinationale Geschichte anzulegen, als Geschichte einer Vielvölker-
verbindung, die nach offizieller Ansicht in der sowjetischen Gegen-
wart, auf der Stufe des „entwickelten Sozialismus“, ihre vorläufige
Erfüllung gefunden hat.23 Auf die historische Bewegungsrichtung die-
ser Geschichte kommt es an. Sie verweist auf eine Einheit neuer Art,
auf das Sowjetvolk, sovetskij narod. Dieser Begriff antizipiert die Ein-
heit und Brüderlichkeit, in der die „multinationale Menschengemein-
schaft“ der Sowjetvölker blühen und wechselseitig sich befruchten
soll.24 25
Schon in den dreißiger Jahren kam heraus, daß die sowjetischen
Historiker „Geschichte der Sowjetunion“ nicht als Vielvölkerge-
schichte, sondern als Reichsgeschichte schrieben, als sowjetische
Reichsgeschichte vornehmlich in der Kontinuität der russischen. Zen-
trale historische Bezugsgröße wurde der russische Staat: Russkoe gosu-
darstvo, Rossijskaja imperija, Rossija.2' Wer moderne Gesamtdarstel-
lungen aus den historischen Instituten der Moskauer Akademie der
Wissenschaften prüft, wird rasch gewahr, daß dieser Befund auch für
23 V. P. Serstobytov, N. A. Vokresenskaja u.a., Nekotorye problemy istoriografii naro-
dov SSSR, in: Izucenie otecestvennoj istorii, 1982 (Anm. 7), S. 297-319, S. G. Agad-
zanov, D. I. Ismail-Zade u.a., Izucenie osnovnych problem istorii narodov SSSR,
ebd., S. 537-564.
24 Die sowjetische Literatur zur ideologischen Begründung des Sowjetvolkes als
„neuer historischer Menschengemeinschaft“ ist in den letzten zehn Jahren unüber-
sehbar geworden. Eine bibliographische Zwischenbilanz bieten N. A. Dobrosol’-
skaja u.a., Formirovanie i razvitie sovetskogo naroda -novoj istoriceskoj obscnosti
ljudej. Bibliograficeskij ukazatel’, Kiev 1978, dazu als Beispiel zugespitzter Polemik
mit vielen Nachweisen: Borys Lewytzkyj, ,Sovetskij narod1. Das Sowjetvolk1. Natio-
nalitätenpolitik als Instrument des sowjetischen Imperialismus, Hamburg 1983. -
Zum Konzept des „entwickelten Sozialismus“ und der „sowjetischen Lebensweise“
mit reichen Belegen: V. I. Kas’janenko, Istoriografija razvitogo socializma i sovets-
kogo obraza zizni, in: Izucenie, 1982 (Anm. 7), S. 191-234.
25 In Übersetzungen aus dem Russischen wird der Unterschied zwischen den Adjekti-
ven „russkij“ (russisch im ethnischen Sinn) und „rossijskij“ (russisch im territorial-
staatlichen Sinn) in der Regel verwischt, man müßte denn für „rossijskij“ etwa „ruß-
ländisch“ sagen. In Bezug auf die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepu-
blik (Rossijskaja SFSR, abgekürzt RSFSR) ist heute die traditionelle Wortbildung
„vserossijskij“ (allrussisch) wieder in Gebrauch gekommen, vgl. z.B. die Allrus-
sische Gesellschaft für Denkmalschutz, dazu Näheres S. 39ff. unten.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften