Klio in Moskau
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den gegenwärtigen Stand der Dinge charakteristisch geblieben ist. Die
nichtrussischen Völker mit ihrer Vergangenheit erscheinen oftmals als
bloße Anlagen zur großrussisch-imperial geprägten Perspektive. Was
nicht Zentrum ist, ist Peripherie.26
Die russozentrische Staats- und Reichsgeschichte übergreift die
Zäsur des Roten Oktober. In der zwölfbändigen Akademieausgabe aus
den Jahren 1966-1980, der vorerst letzten Gesamtdarstellung der
Geschichte der Sowjetunion, sind sechs Bände der Zeit seit 1917 zuge-
dacht, die Revolution halbiert die Vaterländische Geschichte, aber
trennt sie nicht.27 Im übrigen verläuft der Hauptstrang dieser
Geschichte weithin auf hergebrachten Gleisen: von den vor- und früh-
geschichtlichen Anfängen über die Sklavenhalterstaaten im Transkau-
kasus und in Mittelasien zur Staatsbildung der Kiever Rus’, von dort
zum Moskauer Großfürstentum und Zartum des Spätmittelalters und
der frühen Neuzeit. Für das 17. und 18. Jahrhundert gehört dann schon
die „Verwandlung Rußlands in eine Großmacht“ zu den Leitmotiven
der Geschichte, und die „Volksbewegung“, „Bauernkriege“ und Klas-
senkämpfe dieser Zeit münden ein in die Vorgeschichte der Revolu-
tion. Es sind die Bolschewiki, die mit der Oktoberrevolution die Unab-
hängigkeit des Vaterlands gerettet haben.28 Sie übernehmen, was über-
kommen war, heben die Vaterländische Geschichte auf ein höheres
Niveau: höherwertig, weil sozialistisch, auch deshalb höher, weil die
Partei ihre Politik als wissenschaftlich gesteuerte Geschichte verstehen
will. Geschichte ist machbar durch Einsicht in die historische Notwen-
digkeit, in der Einheit von Geschichtsgesetz und Strategie.29
26 Vgl. etwa die in Anm. 6 genannte Akademieausgabe aus den Jahren 1966-1980.
Zwischen diesem Werk und der westlichen Forschung gibt es in dieser Hinsicht
bemerkenswerte Übereinstimmung. Auch im dritten, auf die Periode 1856 bis 1945
bezogenen Band des „Handbuchs der Geschichte Rußlands“ (Stuttgart 1981 ff.) gilt
die multinationale Struktur des Russischen Reiches bzw. der Sowjetunion als ein
durchaus peripheres Problem - vergleichbar der „Wirtschafts- und Sozialge-
schichte“ in älteren Handbüchern der deutschen Geschichte.
27 Ebd. - Die in Anm. 7 genannten Rechenschaftsberichte teilen die Vaterländische
Geschichte in die „Voroktoberperiode“ (dooktjabr’skij period), die „von den Anfän-
gen bis 1917“ reicht, und in die „Sowjetische Periode“.
28 Vgl. dazu die Erklärungen des Nestors der sowjetischen Revolutionsgeschichts-
schreibung 1.1. Mine in der preisgekrönten „Geschichte des Großen Oktober“: Isto-
rija Velikogo Oktjabrja. Bd. 1, Moskau 1967, S. 206.
29 Woldemar Koch, Geschichtsgesetz und Strategie bei Lenin, in: Werner Markert
(Hg.), Der Mensch im kommunistischen System, Tübingen 1957, S. 39-52.
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den gegenwärtigen Stand der Dinge charakteristisch geblieben ist. Die
nichtrussischen Völker mit ihrer Vergangenheit erscheinen oftmals als
bloße Anlagen zur großrussisch-imperial geprägten Perspektive. Was
nicht Zentrum ist, ist Peripherie.26
Die russozentrische Staats- und Reichsgeschichte übergreift die
Zäsur des Roten Oktober. In der zwölfbändigen Akademieausgabe aus
den Jahren 1966-1980, der vorerst letzten Gesamtdarstellung der
Geschichte der Sowjetunion, sind sechs Bände der Zeit seit 1917 zuge-
dacht, die Revolution halbiert die Vaterländische Geschichte, aber
trennt sie nicht.27 Im übrigen verläuft der Hauptstrang dieser
Geschichte weithin auf hergebrachten Gleisen: von den vor- und früh-
geschichtlichen Anfängen über die Sklavenhalterstaaten im Transkau-
kasus und in Mittelasien zur Staatsbildung der Kiever Rus’, von dort
zum Moskauer Großfürstentum und Zartum des Spätmittelalters und
der frühen Neuzeit. Für das 17. und 18. Jahrhundert gehört dann schon
die „Verwandlung Rußlands in eine Großmacht“ zu den Leitmotiven
der Geschichte, und die „Volksbewegung“, „Bauernkriege“ und Klas-
senkämpfe dieser Zeit münden ein in die Vorgeschichte der Revolu-
tion. Es sind die Bolschewiki, die mit der Oktoberrevolution die Unab-
hängigkeit des Vaterlands gerettet haben.28 Sie übernehmen, was über-
kommen war, heben die Vaterländische Geschichte auf ein höheres
Niveau: höherwertig, weil sozialistisch, auch deshalb höher, weil die
Partei ihre Politik als wissenschaftlich gesteuerte Geschichte verstehen
will. Geschichte ist machbar durch Einsicht in die historische Notwen-
digkeit, in der Einheit von Geschichtsgesetz und Strategie.29
26 Vgl. etwa die in Anm. 6 genannte Akademieausgabe aus den Jahren 1966-1980.
Zwischen diesem Werk und der westlichen Forschung gibt es in dieser Hinsicht
bemerkenswerte Übereinstimmung. Auch im dritten, auf die Periode 1856 bis 1945
bezogenen Band des „Handbuchs der Geschichte Rußlands“ (Stuttgart 1981 ff.) gilt
die multinationale Struktur des Russischen Reiches bzw. der Sowjetunion als ein
durchaus peripheres Problem - vergleichbar der „Wirtschafts- und Sozialge-
schichte“ in älteren Handbüchern der deutschen Geschichte.
27 Ebd. - Die in Anm. 7 genannten Rechenschaftsberichte teilen die Vaterländische
Geschichte in die „Voroktoberperiode“ (dooktjabr’skij period), die „von den Anfän-
gen bis 1917“ reicht, und in die „Sowjetische Periode“.
28 Vgl. dazu die Erklärungen des Nestors der sowjetischen Revolutionsgeschichts-
schreibung 1.1. Mine in der preisgekrönten „Geschichte des Großen Oktober“: Isto-
rija Velikogo Oktjabrja. Bd. 1, Moskau 1967, S. 206.
29 Woldemar Koch, Geschichtsgesetz und Strategie bei Lenin, in: Werner Markert
(Hg.), Der Mensch im kommunistischen System, Tübingen 1957, S. 39-52.