Klio in Moskau
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Für den außenstehenden Beobachter ist nicht leicht erkennbar, ob
und gegebenenfalls welche Methoden systematischer Nachwuchsför-
derung üblich und auch wirksam sind. Wahrzunehmen ist die karriere-
fördernde Bedeutung, die akademischen Schulen und personenbe-
zogenen Patronagesystemen zukommt. Daß angesehene „Akademiki“
bis ins biblische Alter hinein in einflußreichen Schlüsselstellungen ver-
harren, dürfte zu einem guten Teil auch aus dem protektionistischen
Interesse ihrer Schutzbefohlenen zu erklären sein. Im übrigen sind die
Anreize für junge Historiker gering; Spitzenbegabungen, die zum
Nachwuchs zu zählen wären, treten in der wissenschaftlichen Öffent-
lichkeit kaum in Erscheinung. Selbst ältere Historiker von unbestritte-
ner Reputation haben große Mühe, internationale Erfahrungen außer-
halb der kommunistisch regierten Länder zu erwerben. Die mangelnde
Weltläufigkeit, auch der Mangel an aktiver Beherrschung fremder
Sprachen, wird von offizieller Seite häufig beklagt.58
Manche Warnungen und Klagen, die in Grundsatzartikeln und
Rechenschaftsberichten stehen, haben inzwischen die Tonlage rituali-
sierter Mängelrügen angenommen. Dazu gehört die Kritik an Saumse-
ligkeit, Interesselosigkeit und Unproduktivität im Forschungsbetrieb,
an der Neigung zu Schönfärberei (lakirovkd), gehört die Kritik an spe-
kulativem Räsonnieren, scholastischem Soziologisieren und formalisti-
schen Übungen unter dem Deckmantel des Neuerertums. Hinzu
kommt die Abwehr strukturalistischer und anderer „modischer Theo-
rien“.59 Im Wachsen begriffen ist das Bedauern über die Zerklüftung
vieler Forschungsgebiete, über den auch anderwärts bekannten Tatbe-
stand, daß der einzelne Forscher „immer Mehr über immer Weniger“
weiß. Die Spezialisierung der historischen Forschung hat auch in der
Sowjetunion große Fortschritte gemacht. Übergreifende Synthesen,
gar solche von gedanklicher Originalität, sind äußerst selten. Sobald die
kleine Welt hochspezialisierter Kompetenz verlassen wird, ist die
Orientierungsfähigkeit der Experten gering. Interdisziplinäre Zusam-
menarbeit zwischen benachbarten Disziplinen findet in aller Regel
nicht statt. Stärker noch als bei uns tendieren die einzelnen Fächer
dazu, sich gegeneinander abzuschließen. Methodologie ist ein separa-
bekannt, nimmt die Kommission nur Arbeiten in russischer Sprache zur Prüfung an.
Gegen diese Diskriminierung der nichtrussischen Sprachen soll sich vor allem in
Georgien Widerspruch erhoben haben.
58 Vgl. den Bericht von Tichvinskij, Anm. 44.
59 Zu den Mängelrügen vgl. etwa Tichvinskij, in: Voprosy istorii 1984/1, S. 7, S. S.
Chromov u.a., in: Izucenie 1982 (Anm. 7), S. 9.
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Für den außenstehenden Beobachter ist nicht leicht erkennbar, ob
und gegebenenfalls welche Methoden systematischer Nachwuchsför-
derung üblich und auch wirksam sind. Wahrzunehmen ist die karriere-
fördernde Bedeutung, die akademischen Schulen und personenbe-
zogenen Patronagesystemen zukommt. Daß angesehene „Akademiki“
bis ins biblische Alter hinein in einflußreichen Schlüsselstellungen ver-
harren, dürfte zu einem guten Teil auch aus dem protektionistischen
Interesse ihrer Schutzbefohlenen zu erklären sein. Im übrigen sind die
Anreize für junge Historiker gering; Spitzenbegabungen, die zum
Nachwuchs zu zählen wären, treten in der wissenschaftlichen Öffent-
lichkeit kaum in Erscheinung. Selbst ältere Historiker von unbestritte-
ner Reputation haben große Mühe, internationale Erfahrungen außer-
halb der kommunistisch regierten Länder zu erwerben. Die mangelnde
Weltläufigkeit, auch der Mangel an aktiver Beherrschung fremder
Sprachen, wird von offizieller Seite häufig beklagt.58
Manche Warnungen und Klagen, die in Grundsatzartikeln und
Rechenschaftsberichten stehen, haben inzwischen die Tonlage rituali-
sierter Mängelrügen angenommen. Dazu gehört die Kritik an Saumse-
ligkeit, Interesselosigkeit und Unproduktivität im Forschungsbetrieb,
an der Neigung zu Schönfärberei (lakirovkd), gehört die Kritik an spe-
kulativem Räsonnieren, scholastischem Soziologisieren und formalisti-
schen Übungen unter dem Deckmantel des Neuerertums. Hinzu
kommt die Abwehr strukturalistischer und anderer „modischer Theo-
rien“.59 Im Wachsen begriffen ist das Bedauern über die Zerklüftung
vieler Forschungsgebiete, über den auch anderwärts bekannten Tatbe-
stand, daß der einzelne Forscher „immer Mehr über immer Weniger“
weiß. Die Spezialisierung der historischen Forschung hat auch in der
Sowjetunion große Fortschritte gemacht. Übergreifende Synthesen,
gar solche von gedanklicher Originalität, sind äußerst selten. Sobald die
kleine Welt hochspezialisierter Kompetenz verlassen wird, ist die
Orientierungsfähigkeit der Experten gering. Interdisziplinäre Zusam-
menarbeit zwischen benachbarten Disziplinen findet in aller Regel
nicht statt. Stärker noch als bei uns tendieren die einzelnen Fächer
dazu, sich gegeneinander abzuschließen. Methodologie ist ein separa-
bekannt, nimmt die Kommission nur Arbeiten in russischer Sprache zur Prüfung an.
Gegen diese Diskriminierung der nichtrussischen Sprachen soll sich vor allem in
Georgien Widerspruch erhoben haben.
58 Vgl. den Bericht von Tichvinskij, Anm. 44.
59 Zu den Mängelrügen vgl. etwa Tichvinskij, in: Voprosy istorii 1984/1, S. 7, S. S.
Chromov u.a., in: Izucenie 1982 (Anm. 7), S. 9.