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Dietrich Geyer
ter Forschungszweig, nicht Teil der allgemeinen Forschungspraxis.
Von Zeit zu Zeit hört man, daß diesem Mangel durch Pflichtseminare
für alle Institutsmitglieder abgeholfen werden soll.60
Schließlich fehlt im Chor selbstkritischer Rechenschaft auch die
Mahnung nicht, die Sprache des Geschichtsschreibers, die russische
Sprache, im festgefrorenen Fachjargon der Spezialisten nicht verkom-
men zu lassen. Dabei wird die literarische Ausdruckskraft der vorrevo-
lutionären Historiker in Erinnerung gerufen, deren überragende Ver-
treter seit langem in hohem Ansehen stehen. Die Verehrung, die man
„bürgerlichen“ Geschichtsschreibern von Rang, wie Sergej Solov’ev
und Vasilij Kljucevskij, entgegenbringt, ist ungebrochen.61 Diese Klas-
siker scheinen der kritischen Zudringlichkeit der Nachgeborenen
nahezu entrückt zu sein. Aber nicht nur den wirklich Großen, - auch
den Leistungen namhafter Historiker aus dem liberalen Lager, dar-
unter bekannten Repräsentanten der ersten Emigration, begegnet man
mittlerweile mit kritischem Respekt. Überhaupt wird die Geschichte
der Vaterländischen Historiographie als eigener Forschungszweig
anhaltend gepflegt.62 Allerdings kann gerade diese trockene akade-
mische Sparte leicht vergessen lassen, daß Klio auch für russische
Historiker dereinst eine Muse war.
Zu Mängelrügen ist Anlaß auch noch in mancher anderen Hinsicht.
Unübersehbar bleibt, daß große und wichtige Themenfelder der Vater-
ländischen Geschichte in jüngerer Zeit verödet sind. Bei diesen ver-
nachlässigten Arbeitsgebieten handelt es sich keineswegs nur um poli-
tisch sensible Tabuzonen aus dem Arkanbereich der Parteigeschichte
60 Voprosy istorii 1984/1, S. 8. - Den Abriß einer marxistisch-leninistischen Methodo-
logie der Geschichte hat der langjährige Akademik-sekretar’ der Geschichtsabtei-
lung der Akademie, E. M. Zukov, hinterlassen: Ocerki metodologii istorii, Moskau
1980. Soweit ich sehen kann, hat dieser knappe Überblick in der sowjetischen Histo-
riographie keine Parallele.
61 V. E. Illerickij, Sovetskie istoriki o S. M. Solov’eve, in: Voprosy istorii 1981/11, S.
124-130; M. V. Neckina, Vasilij Osipovic Kljucevskij. Istorija zizni i tvorcestva, Mos-
kau 1974; B. I. Krasnobaev, V. O. Kljucevskij o russkoj kul’ture XVII-XVIII vekov,
in: Istorija SSSR 1981/5, S. 131-149.
62 Reich belegte Forschungsübersicht zur Geschichte der Geschichtswissenschaft: V.
P. Naumov u.a., Izucenie istorii istoriceskoj nauki na sovremennoj etape, in: Izuce-
nie 1982 (Anm. 7), S. 49-86. Das Spezialfach verfügt über einen eigenen „Wissen-
schaftlichen Rat“ unter Leitung von M. V. Neckina, vgl. Anm. 50. Würdigungen die-
ser Gelehrtenpersönlichkeit: Voprosy istorii 1981/1,S. 115-117,1981/8,S. 125-128,
Novaja i novejsaja istorija 1981/1, S. 208-211.
Dietrich Geyer
ter Forschungszweig, nicht Teil der allgemeinen Forschungspraxis.
Von Zeit zu Zeit hört man, daß diesem Mangel durch Pflichtseminare
für alle Institutsmitglieder abgeholfen werden soll.60
Schließlich fehlt im Chor selbstkritischer Rechenschaft auch die
Mahnung nicht, die Sprache des Geschichtsschreibers, die russische
Sprache, im festgefrorenen Fachjargon der Spezialisten nicht verkom-
men zu lassen. Dabei wird die literarische Ausdruckskraft der vorrevo-
lutionären Historiker in Erinnerung gerufen, deren überragende Ver-
treter seit langem in hohem Ansehen stehen. Die Verehrung, die man
„bürgerlichen“ Geschichtsschreibern von Rang, wie Sergej Solov’ev
und Vasilij Kljucevskij, entgegenbringt, ist ungebrochen.61 Diese Klas-
siker scheinen der kritischen Zudringlichkeit der Nachgeborenen
nahezu entrückt zu sein. Aber nicht nur den wirklich Großen, - auch
den Leistungen namhafter Historiker aus dem liberalen Lager, dar-
unter bekannten Repräsentanten der ersten Emigration, begegnet man
mittlerweile mit kritischem Respekt. Überhaupt wird die Geschichte
der Vaterländischen Historiographie als eigener Forschungszweig
anhaltend gepflegt.62 Allerdings kann gerade diese trockene akade-
mische Sparte leicht vergessen lassen, daß Klio auch für russische
Historiker dereinst eine Muse war.
Zu Mängelrügen ist Anlaß auch noch in mancher anderen Hinsicht.
Unübersehbar bleibt, daß große und wichtige Themenfelder der Vater-
ländischen Geschichte in jüngerer Zeit verödet sind. Bei diesen ver-
nachlässigten Arbeitsgebieten handelt es sich keineswegs nur um poli-
tisch sensible Tabuzonen aus dem Arkanbereich der Parteigeschichte
60 Voprosy istorii 1984/1, S. 8. - Den Abriß einer marxistisch-leninistischen Methodo-
logie der Geschichte hat der langjährige Akademik-sekretar’ der Geschichtsabtei-
lung der Akademie, E. M. Zukov, hinterlassen: Ocerki metodologii istorii, Moskau
1980. Soweit ich sehen kann, hat dieser knappe Überblick in der sowjetischen Histo-
riographie keine Parallele.
61 V. E. Illerickij, Sovetskie istoriki o S. M. Solov’eve, in: Voprosy istorii 1981/11, S.
124-130; M. V. Neckina, Vasilij Osipovic Kljucevskij. Istorija zizni i tvorcestva, Mos-
kau 1974; B. I. Krasnobaev, V. O. Kljucevskij o russkoj kul’ture XVII-XVIII vekov,
in: Istorija SSSR 1981/5, S. 131-149.
62 Reich belegte Forschungsübersicht zur Geschichte der Geschichtswissenschaft: V.
P. Naumov u.a., Izucenie istorii istoriceskoj nauki na sovremennoj etape, in: Izuce-
nie 1982 (Anm. 7), S. 49-86. Das Spezialfach verfügt über einen eigenen „Wissen-
schaftlichen Rat“ unter Leitung von M. V. Neckina, vgl. Anm. 50. Würdigungen die-
ser Gelehrtenpersönlichkeit: Voprosy istorii 1981/1,S. 115-117,1981/8,S. 125-128,
Novaja i novejsaja istorija 1981/1, S. 208-211.