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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0035
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Klio in Moskau

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trag vor allem, den die historische Wissenschaft zur patriotischen und
sittlichen Erziehung der Jugend leiste: „Die Erziehung zum sowjeti-
schen Patriotismus,“ schrieb kürzlich der bedeutende Mediaevist D. S.
Lichacev in einer Broschüre unter dem Titel „Heimaterde“ (Zemlja
rodnajd), „ist unmöglich, ohne die Erziehung zum Stolz auf die große
Vergangenheit unseres Volkes“. Und so preist der Gelehrte denn die
altrussische Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts, die Kunstschöp-
fungen der Stadtrepublik Großnovgorod, ja selbst das Christentum,
das in der Epoche der „Vorrenaissance“ dabei gewesen sei, dem Dun-
kel der Scholastik zu entkommen und „grandiose theologische
Gebäude zu errichten.“76
Aber nicht nur der Nationalstolz, auch die westliche Forschung
kann der Vaterländischen Geschichte als Legitimationsgrundlage die-
nen. Außer Frage steht die Aktualität, die der konsequenten Entlar-
vung bourgeoiser und revisionistischer Pseudotheorien zukommt,
dem entschiedenen Kampf gegen Falsifikateure der Vaterländischen
Geschichte, gegen willentliche oder unwillentliche Entstellungen der
sowjetischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Verlangen nach der
Erhöhung des Valutafonds, nach besserer und rascherer Versorgung
mit ausländischen Neuerscheinungen, ergibt sich daraus. „Die Erfah-
rung zeigt“, so S. S. Chromov, Direktor des Moskauer Akademieinsti-
tuts für Geschichte der UdSSR, „daß, sobald die sowjetischen Histori-
ker auch nur damit beginnen, das eine oder andere historische Problem
zu vernachlässigen, [daß dann] unsere ideologischen Gegner ver-
suchen, ihre Kräfte auf eben dieses historische Objekt zu richten - in
der Absicht, ihre Interpretation der betreffenden Probleme durchzu-
setzen. Die Geschichte ist das Gedächtnis der Menschheit, und hier
sind sklerotische Erscheinungen besonders unzulässig.“77 Aktuell ist,
was der Gegner tut. Dem entspricht die Warnung, daß „antimarxi-
stische Ideologen“ das 1988 bevorstehende Millenium der christlichen
Taufe Altrußlands für ihre durchsichtigen Zwecke ausnutzen könn-
ten.78 Historiker von Rang und öffentlicher Reputation fordern denn
auch seit langem, die Rolle der Kirche in der Geschichte Rußlands zu
einem Schwerpunktthema zu machen. Ob das Werben für die Einsicht
fruchtet, daß Kirchengeschichte durch „Geschichte des Atheismus“
nicht ersetzt werden kann, muß vorerst offen bleiben.79
76 Zitiert nach: Prepodavanie istorii v skole 1984/5, S. 82.
77 S. S. Chromov u.a., in: Izucenie 1982 (Anm. 7), S. 35f.
78 Tichvinskij in: Voprosy istorii 1984/1, S. 12.
79 VgL Cerkov’ v istorii Rossii (IX v. - 1917g.). Kriticeskie ocerki, Moskau 1967. Die-
 
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