Metadaten

Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0036
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
34

Dietrich Geyer

Niemand, der sich mit der gegenwärtigen Lage der sowjetischen
Geschichtsforschung beschäftigt, wird versucht sein, die Erneuerungs-
fähigkeit dieser Wissenschaft für groß zu halten. Soweit von außen her
zu sehen ist, haben in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren bemerkens-
werte Debatten über Schlüsselfragen der Vaterländischen Geschichte
nicht mehr stattgefunden. Die weitgreifenden Grundsatzdiskussionen,
die in den sechziger Jahren aufgeflammt waren, sind zu Beginn der
siebziger Jahre rasch versiegt. Das gilt für die Auseinandersetzungen
um die Abfolge der großen Gesellschaftsformationen, um die Periodi-
sierung des Feudalismus und die Genesis des Kapitalismus in Rußland
(und im internationalen Vergleich), das gilt auch für die kontrovers
erörterten „Besonderheiten des russischen Absolutismus“, für die
Debatten über den Charakter des russischen Imperialismus, für die
Frage nach den sozialökonomischen Voraussetzungen der Oktoberre-
volution und für andere Prinzipienfragen mehr. Es ist hier nicht der
Ort, diese älteren Diskussionen nachzuzeichnen und auf die Ursachen
für den Verlust an intellektueller Spannung einzugehen.80 Der Tatbe-
stand selbst steht außer Zweifel und wird inzwischen auch von den
zuständigen Instanzen der sowjetischen Geschichtsforschung heftig
beklagt.81 Bei allem Nachdenken darüber, was geschehen könnte, ist
allerdings an eine Änderung des geistigen Klimas und eine Entflech-
tung des hierarchischen Forschungsbetriebs offensichtlich nicht
gedacht. Nicht Bewegungsfreiheit, sondern Konzentration, Koordina-
tion und Kontrolle sind die Stichworte der Reform. Insofern wäre es
sem dürftigen Ansatz sind keine nennenswerten Arbeiten zur Kirchengeschichte
gefolgt. Für das Interesse des Publikums spricht, daß die 1983 in 100 000 Exempla-
ren wiederaufgelegte „Geschichte der russischen Kirche“ (Istorija russkoj cerkvi)
von N. M. Nikol’skij (1. Aufl. 1931) binnen kurzem vergriffen war und nur noch in
Devisenläden erworben werden konnte.
80 Über diese Diskussionen unterrichten Carsten Goehrke, Zum gegenwärtigen Stand
der Feudalismusdiskussion in der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte
Osteuropas 22. 1974, S. 214-247; Claus Scharf, Strategien marxistischer Absolutis-
musforschung. Der Absolutismus in Rußland und die Sowjethistoriker, in: Jahr-
buch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient V/1979, Bologna
1981, S. 457-506; Hans-Joachim Torke, Die neuere Sowjethistoriographie zum Pro-
blem des russischen Absolutismus, in: Forschungen zur osteuropäischen
Geschichte 20. 1973, S. 113-133; Bernd Bonwetsch, Oktoberrevolution (Anm. 40).
81 Der Eindruck, daß die wissenschaftliche Kritik und Diskussion in den historischen
Instituten und den Fachzeitschriften zu veröden drohe, war im Mai 1984 Gegen-
stand einer ordentlichen Bürositzung der Abteilung für Geschichte der Akademie
der Wissenschaften. VgL den Bericht in: Voprosy istorii 1984/9, S. 103-109.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften