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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0039
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Klio in Moskau

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Mit so starken Gefühlen verglichen, wirkt selbst die revolutionäre
Tradition gekünstelt. Der aufwendige, nicht ab reißende Rekurs auf den
Roten Oktober greift nach der Revolution wie nach einem Requisit aus
der Kulisse.86 Auch das Massensterben des großen Hungers und der
Säuberungen, die Schrecken der dreißiger Jahre, scheinen vor der Folie
des Zweiten Weltkrieges weit entrückt. Daß Stalin und der Stalinismus
heute in der Sowjetunion durchaus nicht als „unbewältigte Vergangen-
heit“ empfunden werden, hat mit dem Krieg viel zu tun. Nur kleine
Minderheiten klagen noch die „Entstalinisierung“ ein.87
Sieht man genauer zu, dann kommt zutage, daß das Kriegserlebnis
auch für die Beziehung zur femerliegenden Vergangenheit bewußt-
seinsleitend geblieben ist. Seit mehr als vierzig Jahren, seit dem deut-
schen Angriff auf die Sowjetunion, wird die Vaterländische Geschichte
im Prisma des Großen Vaterländischen Krieges wahrgenommen. Daß
dies bis heute so blieb, ist zu einem Gutteil der populärwissenschaftli-
chen und geschichtspädagogischen „Massenarbeit“ zuzuschreiben,
einer jener „heiligen Verpflichtungen“, denen der sowjetische Histori-
ker sich widmen soll.88 In den Fachzeitschriften und den Institutsver-
sammlungen wird zur „Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus der
Propaganda der ruhmreichen patriotischen Traditionen des Volkes“
unablässig aufgerufen - und dies nicht nur 1985 im Gedenken an den
großen Sieg über die Aggressoren. Die in den Kinderbüchern und
Schulbüchern verankerten Meilensteine der Vaterländischen Ge-
schichte sind wie in einer Kette miteinander verknüpft: der Sieg des
Fürsten Alexander Nevskij über die Ordensritter auf dem Eis des Pei-
pussees (1242), der Sieg Dmitrij Donskojs über die Mongolen auf dem
Schnepfenfeld, dem Kulikovo pole von 1380, später dann die Vertrei-
bung der Polen und Schweden aus dem russischen Land und schließ-
erscheinende Flut von Publikationen unterschiedlichster Gattung bezeugt die
Aktualität des Großen Vaterländischen Krieges im Bewußtsein der sowjetischen
Bevölkerung. Vgl. Nyota Thun (Hg.), Gesichter des Krieges. Der Große Vaterlän-
dische Krieg im Spiegel der sowjetischen Prosa. Aus dem Russ. 2. veränd. Auf!., Ber-
lin/DDR 1985.
86 Die sowjetischen Revolutionsmuseen mit ihrem überwiegend sakralen Charakter
wären ein Thema eigener Art. Zum Stil dieser Gedenkstätten vgl. etwa das Katalog-
und Broschürenmaterial des Zentralen Revolutionsmuseums in Moskau und seiner
Leningrader Filialen.
87 Zur „Wiedergeburt des Stalinkultes“: V. Zaslavsky, a.a.O., S. 11-27.
88 Programmatisch: S. S. Chromov, Idejno-vospitatel’nye funkcii sovetskoj istoriceskoj
nauki, in: Voprosy istorii 1980/7, S. 3-19.
 
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