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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0042
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Dietrich Geyer

Sinn.93 Halt finden solche Regungen in der Sorge um die untergehende
dörfliche Welt, in der Verklärung des Bodens, der Erde und Krume, der
bäuerlichen Substanz des Russentums. Aus der Ideengeschichte der
russischen Intelligencija ist bekannt, daß die Zuwendung zur vermeint-
lichen Ursprünglichkeit des Volkslebens mitunter mythische Formen
annehmen kann. Ihre neopopulistischen Züge zeigen sich in der uner-
hörten Popularität, deren sich seit Jahren die oft bedeutende russische
Dorfprosa erfreut. Inzwischen sind die Repräsentanten dieser Litera-
tur, die derevensciki, durch Übersetzungen auch hierzulande so
bekannt, daß ich es bei diesem knappen Hinweis belassen kann.94 95
Empfindsamkeit für Traditionen ist indessen nicht bloß literari-
scher Natur. Sie äußert sich, nicht minder wirksam, im Bemühen um
die Rettung und Restauration des Alten, des von der Zerstörung
Bedrohten, - und dies nicht nur an prestigeträchtigen Orten wie den
Zarenschlössem, wo Denkmalspflege und Valuta-Tourismus dicht
Zusammengehen. Die Fürsorge gilt nicht nur den großen nationalen
Gedenk- und Pilgerstätten, die mit den Namen Puskin, Tolstoj oder
Lenin verbunden sind, sondern gilt auch ganz vergessenen Plätzen und
Dingen in abgelegenen Städten und Winkeln des Landes, in der
gewöhnlichen Provinz.9" Offensichtlich hat die Ära Chruscev (1953-
1964) durch ihre kaum überbietbare Fortschrittseuphorie dieser Bewe-
gung kräftige Anstöße gegeben.
Charakteristisch war für diese Zeit, daß sie nichts anerkennen
wollte als funktionale Zweckrationalität. Die Zerstörungen waren er-
heblich. Anstößig wirkten sie nicht nur in Moskau, wo man mit giganti-
schen Hotel- und Kongreßbauten den dürftigen Überresten der alten
93 Dunlop, Faces, S. 101 ff.
94 Aus der Fülle der Literatur: Elisabeth Markstein, Die sowjetische Dorfprosa und
ihre Ideologen, in: Osteuropa 33. 1983, S. 764-772; Georg Witte, Die sowjetische
Kolchos- und Dorfprosa der fünfziger und sechziger Jahre, München 1983. - V. A.
Solouchin, seit zwanzig Jahren einer der publizistischen Stimmführer des national-
russischen Traditionalismus, nennt in einem Interview die Dorfprosa „ein Wort der
Erinnerung an das, was das russische Dorf einmal war,... ein Wort des Abschieds zu
einem Sterbenden“; er spricht von denen, die das Dorf „wie eine leibliche Mutter
empfinden“, zit. nach: Interview mit Solouchin, in: Osteuropa 34. 1984, S. 903-909
(mit einer Werkbibliographie des Schriftstellers).
95 Vgl. Dunlop, Faces, S. 172 ff. auch zu religiösen Pilgerstätten. Als Beispiel für die
Formen kultischer Verehrung gegenüber den großen Schriftstellern verweise ich auf
den vorzüglich ausgestatteten Bildreiseführer: Puschkin-Gedenkstätten. Michai-
lowskoje, Trigorskoje, Petrowskoje, Swjatogorsker Kloster, Verlag Planeta, Moskau
1982, mit einem an süßlichem Pathos schwer überbietbaren Text.
 
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