Klio in Moskau
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Hauptstadt vollends an die Wurzeln ging.96 Nicht minder gewaltsam
war der Raubbau, der im kemrussischen Land und im russischen Nor-
den getrieben wurde. Dort kam es zum rapiden Verfall, häufig auch zur
Vernichtung zahlloser historisch wertvoller Bausubstanz, zumal Kir-
chen und Klosterbauten.97 Dieses Zerstörungswerk hatte eine erstaun-
liche Resonanz und regte zu Protesten und öffentlichen Initiativen an.
Eine der amtlichen Reaktionen war die Einrichtung der Denkmal-
schutzgesellschaft. Ihre Aktivität verstärkte sich von Jahr zu Jahr und
müht sich inzwischen in der Provinz auch um die Konservierung alter
Stadtkerne und Dorfanlagen, um die wenigstens exemplarische Ret-
tung dessen, was von den Resten des,hölzernen Rußland4 noch zu ret-
ten ist. Die Gesellschaft wirkt als Widerhaken gegen die Trägheit und
Selbstherrlichkeit einschlägiger Behörden, die mit ihren Bauämtem,
Baggern und Kränen nun immer häufiger unter Rechtfertigungsdruck
geraten.
Abwegig wäre es, diesen Denkmalsverein für ein Sammelbecken
politischer Opposition zu halten. Im Präsidium ihres Zentralrates sit-
zen nicht nur Schriftsteller, Architekten, Museumsleute und
Geschichtsprofessoren, sondern auch ein Stellvertretender Minister-
präsident der RSFSR (als Vorsitzender), der Kultusminister und
andere hochrangige Ressortvertreter dieser Republik. Auch in dem
Netz regionaler und lokaler Verbände sind die Honoratioren von Par-
tei und Staat vertreten. Ihr Appell gilt vor allem der Jugend, den Stu-
denten zumal, die als „Enthusiasten“ des Denkmalsschutzes für
Arbeitseinsätze mobilisiert werden sollen. Auf den Konferenzen und
Kongressen, die die Gesellschaft veranstaltet, sind die Sprecher darum
bemüht klarzumachen, daß niemand anderes als die Kommunistische
Partei dem Denkmalsschutz die Richtung weise: Keine Rede ohne
Leninzitate, keine ohne die Versicherung, daß die Schatzkammer der
Geschichte die patriotischen Gefühle des Volkes stimuliere und den
sozialistischen Internationalismus dazu. Wer „nihilistische Einstellun-
gen zum historischen Erbe“ bekämpfe, fördere die geistig-moralische
Erziehung, festige die Freundschaft unter den Völkern und diene den
„leuchtenden kommunistischen Idealen“.98
96 Instruktive Beispiele bei Karl Schlögel, Moskau lesen, Berlin/West 1984.
97 Zu den Kirchenverfolgungen unter Chruscev vgl. Dunlop, Faces, S. 180ff.; Gernot
Seide, Religiöse Renaissance in der Sowjetunion. Mythos und Wirklichkeit, in:
Osteuropa 34. 1984, S. 910-920.
98 Tichonov (Anm. 92), S. 13 ff.
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Hauptstadt vollends an die Wurzeln ging.96 Nicht minder gewaltsam
war der Raubbau, der im kemrussischen Land und im russischen Nor-
den getrieben wurde. Dort kam es zum rapiden Verfall, häufig auch zur
Vernichtung zahlloser historisch wertvoller Bausubstanz, zumal Kir-
chen und Klosterbauten.97 Dieses Zerstörungswerk hatte eine erstaun-
liche Resonanz und regte zu Protesten und öffentlichen Initiativen an.
Eine der amtlichen Reaktionen war die Einrichtung der Denkmal-
schutzgesellschaft. Ihre Aktivität verstärkte sich von Jahr zu Jahr und
müht sich inzwischen in der Provinz auch um die Konservierung alter
Stadtkerne und Dorfanlagen, um die wenigstens exemplarische Ret-
tung dessen, was von den Resten des,hölzernen Rußland4 noch zu ret-
ten ist. Die Gesellschaft wirkt als Widerhaken gegen die Trägheit und
Selbstherrlichkeit einschlägiger Behörden, die mit ihren Bauämtem,
Baggern und Kränen nun immer häufiger unter Rechtfertigungsdruck
geraten.
Abwegig wäre es, diesen Denkmalsverein für ein Sammelbecken
politischer Opposition zu halten. Im Präsidium ihres Zentralrates sit-
zen nicht nur Schriftsteller, Architekten, Museumsleute und
Geschichtsprofessoren, sondern auch ein Stellvertretender Minister-
präsident der RSFSR (als Vorsitzender), der Kultusminister und
andere hochrangige Ressortvertreter dieser Republik. Auch in dem
Netz regionaler und lokaler Verbände sind die Honoratioren von Par-
tei und Staat vertreten. Ihr Appell gilt vor allem der Jugend, den Stu-
denten zumal, die als „Enthusiasten“ des Denkmalsschutzes für
Arbeitseinsätze mobilisiert werden sollen. Auf den Konferenzen und
Kongressen, die die Gesellschaft veranstaltet, sind die Sprecher darum
bemüht klarzumachen, daß niemand anderes als die Kommunistische
Partei dem Denkmalsschutz die Richtung weise: Keine Rede ohne
Leninzitate, keine ohne die Versicherung, daß die Schatzkammer der
Geschichte die patriotischen Gefühle des Volkes stimuliere und den
sozialistischen Internationalismus dazu. Wer „nihilistische Einstellun-
gen zum historischen Erbe“ bekämpfe, fördere die geistig-moralische
Erziehung, festige die Freundschaft unter den Völkern und diene den
„leuchtenden kommunistischen Idealen“.98
96 Instruktive Beispiele bei Karl Schlögel, Moskau lesen, Berlin/West 1984.
97 Zu den Kirchenverfolgungen unter Chruscev vgl. Dunlop, Faces, S. 180ff.; Gernot
Seide, Religiöse Renaissance in der Sowjetunion. Mythos und Wirklichkeit, in:
Osteuropa 34. 1984, S. 910-920.
98 Tichonov (Anm. 92), S. 13 ff.