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Dietrich Geyer
Obschon insoweit alles in guter Ordnung ist, wäre es falsch, von den
programmatischen Erklärungen auf die Realität der Denkmalsschutz-
gesellschaft zu schließen. Die Wirklichkeit stellt sich verwickelter dar,
als es die Semantik der Vereinssprache ahnen läßt. In funktionaler Hin-
sicht ist die Gesellschaft ein Appendix der staatlichen Kulturbehörden.
Sie erhöht deren Gewicht im Positionskampf um die knappen Finanz-
mittel und wirkt mit ihrer publizistischen Arbeit lautverstärkend dort,
wo es um die Rettung gefährdeter Denkmäler geht. Bei der Verteilung
der Zuständigkeiten hat sich zwischen den Kulturbehörden und der
Gesellschaft mittlerweile eine Art Ressorttrennung eingespielt. Wäh-
rend sich das Archiv- und das Museumswesen überwiegend in staatli-
cher Regie befinden, konzentriert sich die Gesellschaft vor allem auf
die - wie man sagt - „unbeweglichen Denkmäler“ (nepodvizimyepam-
jatniki), auf Liegenschaften und historische Gebäude, Restaurierung
und Ensembleschutz, Betreuung von Gedenkstätten, zunehmend
auch auf die Einrichtung und Unterhaltung lokaler Museen. Rechts-
grundlage ihrer Tätigkeit ist das im Oktober 1976 vom Obersten Sowjet
der UdSSR erlassene Gesetz „Über den Schutz und die Nutzung von
Geschichts- und Kulturdenkmälern.“ Finanzgrundlage sind die Mit-
gliederbeiträge und Zuschüsse der öffentlichen Hand."
Trotz der offiziösen Einfärbung steht außer Frage, daß die Gesell-
schaft ein für sowjetische Verhältnisse beachtliches Maß an Eigentätig-
keit entfalten kann. Ihr Ansehen ist nicht klein. Ihre Durchschlagskraft
erweist sich zumal in der lokalen Sphäre: in der Auseinandersetzung
mit der Bürokratie, im Beharren auf der Dignität ihrer Aufgaben, nicht
zuletzt im Einklang mit der verbreiteten Empfänglichkeit für Tradition
und patriotische Gefühle. Die Pflege altrussischer, mit Kirche und
orthodoxer Frömmigkeit verwobener Überlieferung hat dabei einen
hohen Rang, wirft aber natürlich auch schwierige ideologische Pro-
bleme auf.99 100 Zwei von den bisher vier „allrussischen“ Kongressen, die
99 Ebd., S. 16, sowie Voprosy istorii 1981/2, S. 22ff.
100 Tichonov (Anm. 92), S. 21, unterstreicht die Entschlossenheit der Gesellschaft, den
Denkmalsschutz vom „Partei- und Klassenstandpunkt“ aus zu betreiben. Dabei kri-
tisiert er eine „primitive Propagandatätigkeit“, die an zweifelhaften, das persönliche
Leben betreffende Geschichten über hochgestellte Persönlichkeiten der Vergan-
genheit, an Zaren, Fürsten und kirchlichen Würdenträgern, Gefallen finde, über-
lebte Elemente der Nationalkultur idealisiere, kirchlich-feudale Stilrichtungen als
angeblich nationale Kunstformen verherrliche, sich einer archaischen Lexik
bediene etc. Erforderlich sei ein „dialektisches Herangehen“ (dialekticeskij pod-
chod) besonders gegenüber kirchlichen Denkmälern, denen die „Aureole der Reli-
Dietrich Geyer
Obschon insoweit alles in guter Ordnung ist, wäre es falsch, von den
programmatischen Erklärungen auf die Realität der Denkmalsschutz-
gesellschaft zu schließen. Die Wirklichkeit stellt sich verwickelter dar,
als es die Semantik der Vereinssprache ahnen läßt. In funktionaler Hin-
sicht ist die Gesellschaft ein Appendix der staatlichen Kulturbehörden.
Sie erhöht deren Gewicht im Positionskampf um die knappen Finanz-
mittel und wirkt mit ihrer publizistischen Arbeit lautverstärkend dort,
wo es um die Rettung gefährdeter Denkmäler geht. Bei der Verteilung
der Zuständigkeiten hat sich zwischen den Kulturbehörden und der
Gesellschaft mittlerweile eine Art Ressorttrennung eingespielt. Wäh-
rend sich das Archiv- und das Museumswesen überwiegend in staatli-
cher Regie befinden, konzentriert sich die Gesellschaft vor allem auf
die - wie man sagt - „unbeweglichen Denkmäler“ (nepodvizimyepam-
jatniki), auf Liegenschaften und historische Gebäude, Restaurierung
und Ensembleschutz, Betreuung von Gedenkstätten, zunehmend
auch auf die Einrichtung und Unterhaltung lokaler Museen. Rechts-
grundlage ihrer Tätigkeit ist das im Oktober 1976 vom Obersten Sowjet
der UdSSR erlassene Gesetz „Über den Schutz und die Nutzung von
Geschichts- und Kulturdenkmälern.“ Finanzgrundlage sind die Mit-
gliederbeiträge und Zuschüsse der öffentlichen Hand."
Trotz der offiziösen Einfärbung steht außer Frage, daß die Gesell-
schaft ein für sowjetische Verhältnisse beachtliches Maß an Eigentätig-
keit entfalten kann. Ihr Ansehen ist nicht klein. Ihre Durchschlagskraft
erweist sich zumal in der lokalen Sphäre: in der Auseinandersetzung
mit der Bürokratie, im Beharren auf der Dignität ihrer Aufgaben, nicht
zuletzt im Einklang mit der verbreiteten Empfänglichkeit für Tradition
und patriotische Gefühle. Die Pflege altrussischer, mit Kirche und
orthodoxer Frömmigkeit verwobener Überlieferung hat dabei einen
hohen Rang, wirft aber natürlich auch schwierige ideologische Pro-
bleme auf.99 100 Zwei von den bisher vier „allrussischen“ Kongressen, die
99 Ebd., S. 16, sowie Voprosy istorii 1981/2, S. 22ff.
100 Tichonov (Anm. 92), S. 21, unterstreicht die Entschlossenheit der Gesellschaft, den
Denkmalsschutz vom „Partei- und Klassenstandpunkt“ aus zu betreiben. Dabei kri-
tisiert er eine „primitive Propagandatätigkeit“, die an zweifelhaften, das persönliche
Leben betreffende Geschichten über hochgestellte Persönlichkeiten der Vergan-
genheit, an Zaren, Fürsten und kirchlichen Würdenträgern, Gefallen finde, über-
lebte Elemente der Nationalkultur idealisiere, kirchlich-feudale Stilrichtungen als
angeblich nationale Kunstformen verherrliche, sich einer archaischen Lexik
bediene etc. Erforderlich sei ein „dialektisches Herangehen“ (dialekticeskij pod-
chod) besonders gegenüber kirchlichen Denkmälern, denen die „Aureole der Reli-