Klio in Moskau
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Leont’ev bis hin zu Nikolaj Berdjaev.103 * 105 Das Vermächtnis dieser
Ahnen wird ins Kultische gehoben und den Kultfiguren des Regimes
konfrontiert. Manche probieren sogar eine Synthese zwischen Chri-
stentum und Bolschewismus aus.106
Wie man sieht, ist dieses Denken in anderer Weise rückwärtsge-
wandt als der etablierte Kanon der Vaterländischen Geschichte. Vieles
davon ist Ausdruck der Isolation, des Abgeschnittenseins von der wirk-
lichen Welt, Folge auch der vom sowjetischen Staat besorgten Immu-
nisierung gegen Anstöße, die von außen kommen und unter Kosmopo-
litismusverdacht geraten könnten. Die Obrigkeit hat von der Heraus-
forderung, die der freischwebende Dissidenten-Nationalismus ihr ent-
gegenhält, bisher nur im kriminologischen, kaum im ideologischen
Sinn Notiz genommen. In den Instituten, deren Aufgabe die Erfor-
schung der Geschichte ist, wird abweichendes Denken ausgespart,
gelegentlich auch stillgestellt. Anpassungen an veränderte gesellschaft-
liche Stimmungslagen kommen hier zwar vor, aber sie geschehen
geräuschlos, nahezu unmerklich. Wo immer es angebracht erscheint,
hat sich die professionelle Historie in den Prozeß fortgehender Ver-
änderung mit den ihr eigenen Mitteln einzumischen.107 Viele Histori-
ker sind im Denkmalsschutz aktiv geworden, viele in führenden Funk-
tionen, und unter der Ägide der Akademie der Wissenschaften soll in
den kommenden Jahren ein großangelegtes Kataster (svod) der
Geschichts- und Kulturdenkmäler entstehen, ein gewaltiges, den
Gesamtstaat umfassendes Unternehmen, das in der UdSSR ohne
103 Dunlop, Faces, S. 201-217. - Das anhaltende Interesse auch der Historiker an der
antiwestlichen Ideenwelt Leont’evs reflektiert der Beitrag von N. A. Rabkina, Istori-
ceskie vzgljady K. N. Leont’eva, in: Voprosy istorii 1982/6, S. 49-61, mit Hinweisen
auf Berührungspunkte hinsichtlich der biologistisch-geographischen Ethnos-Theo-
rien des Leningrader Publizisten L. N. Gumilev. Vgl. dessen Buch: V poiskach
vymyslennogo carstva, Moskau 1970, ders., Etnos - sostojanie ili process? Vestnik
Leningradskogo Universiteta 1971/72. Unerwähnt bleibt merkwürdigerweise
Gumilevs späteres Buch: Etnogenos i biosfera zemli, Leningrad 1979, vgl. dazu Lew
Kopelew, Im Willen zur Wahrheit. Analysen und Einsprüche (Fischer TB), Frank-
furt 1984, S. 96, 108 ff.
106 Zu Genadij Simanov und seiner abstrusen Theorie des „idealen Staates“, d.h. der
Transformation des Sowjetregimes in eine Theokratie: Dunlop, Faces, S. 186f., zur
„nationalbolschewistischen“ Variante des russischen Nationalismus, ebd., S. 254-
265.
107 Vgl. die Forderungen von S. S. Chromov (Anm. 88).
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Leont’ev bis hin zu Nikolaj Berdjaev.103 * 105 Das Vermächtnis dieser
Ahnen wird ins Kultische gehoben und den Kultfiguren des Regimes
konfrontiert. Manche probieren sogar eine Synthese zwischen Chri-
stentum und Bolschewismus aus.106
Wie man sieht, ist dieses Denken in anderer Weise rückwärtsge-
wandt als der etablierte Kanon der Vaterländischen Geschichte. Vieles
davon ist Ausdruck der Isolation, des Abgeschnittenseins von der wirk-
lichen Welt, Folge auch der vom sowjetischen Staat besorgten Immu-
nisierung gegen Anstöße, die von außen kommen und unter Kosmopo-
litismusverdacht geraten könnten. Die Obrigkeit hat von der Heraus-
forderung, die der freischwebende Dissidenten-Nationalismus ihr ent-
gegenhält, bisher nur im kriminologischen, kaum im ideologischen
Sinn Notiz genommen. In den Instituten, deren Aufgabe die Erfor-
schung der Geschichte ist, wird abweichendes Denken ausgespart,
gelegentlich auch stillgestellt. Anpassungen an veränderte gesellschaft-
liche Stimmungslagen kommen hier zwar vor, aber sie geschehen
geräuschlos, nahezu unmerklich. Wo immer es angebracht erscheint,
hat sich die professionelle Historie in den Prozeß fortgehender Ver-
änderung mit den ihr eigenen Mitteln einzumischen.107 Viele Histori-
ker sind im Denkmalsschutz aktiv geworden, viele in führenden Funk-
tionen, und unter der Ägide der Akademie der Wissenschaften soll in
den kommenden Jahren ein großangelegtes Kataster (svod) der
Geschichts- und Kulturdenkmäler entstehen, ein gewaltiges, den
Gesamtstaat umfassendes Unternehmen, das in der UdSSR ohne
103 Dunlop, Faces, S. 201-217. - Das anhaltende Interesse auch der Historiker an der
antiwestlichen Ideenwelt Leont’evs reflektiert der Beitrag von N. A. Rabkina, Istori-
ceskie vzgljady K. N. Leont’eva, in: Voprosy istorii 1982/6, S. 49-61, mit Hinweisen
auf Berührungspunkte hinsichtlich der biologistisch-geographischen Ethnos-Theo-
rien des Leningrader Publizisten L. N. Gumilev. Vgl. dessen Buch: V poiskach
vymyslennogo carstva, Moskau 1970, ders., Etnos - sostojanie ili process? Vestnik
Leningradskogo Universiteta 1971/72. Unerwähnt bleibt merkwürdigerweise
Gumilevs späteres Buch: Etnogenos i biosfera zemli, Leningrad 1979, vgl. dazu Lew
Kopelew, Im Willen zur Wahrheit. Analysen und Einsprüche (Fischer TB), Frank-
furt 1984, S. 96, 108 ff.
106 Zu Genadij Simanov und seiner abstrusen Theorie des „idealen Staates“, d.h. der
Transformation des Sowjetregimes in eine Theokratie: Dunlop, Faces, S. 186f., zur
„nationalbolschewistischen“ Variante des russischen Nationalismus, ebd., S. 254-
265.
107 Vgl. die Forderungen von S. S. Chromov (Anm. 88).