Die Epochenschwelle von 1912
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Gesamteindruck einer irrealen Boulevard-Szene auf die Formel zu
bringen, „daß das Gedicht zur Vereinheitlichung gleichzeitig einlädt
und sie verweigert“, weshalb alles Verstehen.mit dem immer neuen
Auslegen der Karten eines Patience-Spiels sein Bewenden haben
müsse22. Auch Lundi Rue Christine gewänne in seinem prononcierten
Modernismus nicht die Qualität eines Gedichts, wäre es nur dazu
geschaffen, Jede hermeneutische Annäherung abzuweisen und zu
disqualifizieren“23. Auch für diesen Fall gilt die Forderung, die Dieter
Henrich anläßlich einer Arbre-Interpretation begründet hat: es sei
nicht genug, „(das) Strukturprinzip anzugeben und die poetische Tech-
nik zu beschreiben. Eine Folge von Ambiguitäten ist noch kein zwin-
gendes Ganzes. Wenn dieses Ganze, auf Grund der Technik, in der es
ausgefuhrt ist, zu immer neuer Deutung auffordert, so ist diese doch
weder beliebig im Detail noch frei von einer grundlegenden Orientie-
rung, die durch den Aufbau des Textes zwingend gegeben ist“24. Wenn
Apollinaires Konversationsgedicht auf eine so ungewöhnliche Weise
fragmentarisiert erscheint, daß sich seine Elemente durch kein vor-
gegebenes Ganzes mehr allesamt entschlüsseln lassen, enthält es doch
eine Grundorientierung, die dem Leser ermöglicht, trotz fehlender
Referenten der zerstückelten Konversation aus dem ‘simul et singulari-
ter’ wiederholter Lektüren ein aufgegebenes, obschon verschieden
deutbares Ganzes zu erstellen.
So schockierend modern das Gedicht auf den ersten Blick auch
erscheinen mag, erneuert - und benötigt - es doch die von Haus aus
klassische Einheit von Ort und Zeit. Gleichviel ob in manchen Versen
die Grenzen zwischen Außen und Innen, expliziter Rede und bloßer
Vorstellung verwischt sind, der Leser - folgt er der Grundorientierung
des Textes - wird und muß alle Äußerungen als ‘Abschattungen’ der
einen Situation und des einen Zeitpunkts in der Brasserie Rue Chri-
stine aufnehmen. Daraus entspringt denn auch - durch alle scheinbar
beliebig aufeinander folgenden Details hindurch - eine fast unmerk-
liche, sich gleichwohl intensivierende Einheit des Geschehens: der
prägnante Moment simultanen Lebens. Die Grundorientierung der
Lektüre, die in den Koordinaten von Raum, Zeit und Geschehen auch
noch den verschiedensten Deutungen der kontingenten Redevielfalt
zwingend, weil dem Aufbau des Textes entspringend, vorgezeichnet
22 L. Daellenbach, in: UTB 1911, S. 303-305, nach Ph. Renaud (1969), S. 330.
23 L. Daellenbach, in UTB 1911, S. 304.
24 In: Poetik und Hermeneutik II, S. 480.
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Gesamteindruck einer irrealen Boulevard-Szene auf die Formel zu
bringen, „daß das Gedicht zur Vereinheitlichung gleichzeitig einlädt
und sie verweigert“, weshalb alles Verstehen.mit dem immer neuen
Auslegen der Karten eines Patience-Spiels sein Bewenden haben
müsse22. Auch Lundi Rue Christine gewänne in seinem prononcierten
Modernismus nicht die Qualität eines Gedichts, wäre es nur dazu
geschaffen, Jede hermeneutische Annäherung abzuweisen und zu
disqualifizieren“23. Auch für diesen Fall gilt die Forderung, die Dieter
Henrich anläßlich einer Arbre-Interpretation begründet hat: es sei
nicht genug, „(das) Strukturprinzip anzugeben und die poetische Tech-
nik zu beschreiben. Eine Folge von Ambiguitäten ist noch kein zwin-
gendes Ganzes. Wenn dieses Ganze, auf Grund der Technik, in der es
ausgefuhrt ist, zu immer neuer Deutung auffordert, so ist diese doch
weder beliebig im Detail noch frei von einer grundlegenden Orientie-
rung, die durch den Aufbau des Textes zwingend gegeben ist“24. Wenn
Apollinaires Konversationsgedicht auf eine so ungewöhnliche Weise
fragmentarisiert erscheint, daß sich seine Elemente durch kein vor-
gegebenes Ganzes mehr allesamt entschlüsseln lassen, enthält es doch
eine Grundorientierung, die dem Leser ermöglicht, trotz fehlender
Referenten der zerstückelten Konversation aus dem ‘simul et singulari-
ter’ wiederholter Lektüren ein aufgegebenes, obschon verschieden
deutbares Ganzes zu erstellen.
So schockierend modern das Gedicht auf den ersten Blick auch
erscheinen mag, erneuert - und benötigt - es doch die von Haus aus
klassische Einheit von Ort und Zeit. Gleichviel ob in manchen Versen
die Grenzen zwischen Außen und Innen, expliziter Rede und bloßer
Vorstellung verwischt sind, der Leser - folgt er der Grundorientierung
des Textes - wird und muß alle Äußerungen als ‘Abschattungen’ der
einen Situation und des einen Zeitpunkts in der Brasserie Rue Chri-
stine aufnehmen. Daraus entspringt denn auch - durch alle scheinbar
beliebig aufeinander folgenden Details hindurch - eine fast unmerk-
liche, sich gleichwohl intensivierende Einheit des Geschehens: der
prägnante Moment simultanen Lebens. Die Grundorientierung der
Lektüre, die in den Koordinaten von Raum, Zeit und Geschehen auch
noch den verschiedensten Deutungen der kontingenten Redevielfalt
zwingend, weil dem Aufbau des Textes entspringend, vorgezeichnet
22 L. Daellenbach, in: UTB 1911, S. 303-305, nach Ph. Renaud (1969), S. 330.
23 L. Daellenbach, in UTB 1911, S. 304.
24 In: Poetik und Hermeneutik II, S. 480.