Metadaten

Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0049
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Epochenschwelle von 1912

39

aber - einer anderen Illusion verfallend - als planbare Apokalypse
einer alles erneuernden Revolution angesehen und heroisch bejaht.
Ich bin darauf schon in anderem Zusammenhang eingegangen69 und
möchte abschließend noch einmal zu Apollinaire zurückkehren.
VIII.
Die Stunde, die der ersten Welle der ästhetischen Avantgarde des
20. Jahrhunderts schlug, war die Quinta major von 1914. ‘Was Ehre ist,
hängt vom Zeitpunkt ab’ - das Pathos dieser Sentenz hat sich gerade
am weiteren Schicksal Apollinaires im ironischen Sinn bewahrheitet.
Wie sehr er die Fragwürdigkeit der geschichtlichen Stunde verkannte,
der Faszination des Außerordentlichen wie den kollektiven und natio-
nalen Mythen des ‘Kriegserlebens’ anheimfiel und die Ehre der Dich-
tung preisgab, indem er sie in seiner Kriegspoesie zu retten glaubte,
zeigt fast die ganze spätere Lyrik des bis zum Ende (er fiel 1918)
unbeirrt weiterdichtenden, engagierten Artilleristen: er hat den Krieg
selbst in keinem Text ausdrücklich verworfen. Über diesen ‘Sturz des
Icarus’ (Ph. Renaud) der Avantgarde von 1912 hat die Rezeptions-
geschichte nach einer anfänglich noch scharfen Kritik (vorab von
André Breton)70 bald den gnädigen Mantel des Vergessens gebreitet.
Aus guten, sowohl ideologiekritischen wie ästhetischen Gründen!
Denn die Kriegspoesie Apollinaires ist als Zeugnis einer ideologischen
Verblendung auch dafür lehrreich, wie genuine poetische Mittel degra-
dieren können, wenn sie der naiven Bejahung einer schlimmen,
schicksalhaft hingenommenen Wirklichkeit dienen müssen: die orpIri-
schen Töne der Calligrammes verklärten, was nicht zu verklären war.
Dieser These hat Claude Debon mit Argumenten widersprochen,
die es wert sind, hier noch abschließend erörtert zu werden71. Ein
gerechteres Urteil dürfe Apollinaire nicht anlasten, was in einem
erstaunlichen Maße für seine Generation zutreffe: dieser Krieg habe
sie wie ein psychischer Schock getroffen, der ihre ästhetische Existenz
radikal in Frage stellte, durch Dichtung und Kunst nicht unmittelbar
69 „Der literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adorno“ (wie Anm. 1), S.
123 f.
70 S. dazu CI. Debon (wie Anm. 34), S. 126.
71 Bei der Diskussion meines Vortrags auf einem Kolloquium in Nantes unter Bezug-
nahme auf ihr Buch (wie Anm. 34).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften