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Hans Robert Jauss
bewältigt werden konnte. Er habe Reaktionen ausgelöst, die uns als
Flucht ins Engagement, in Stoizismus, ins Imaginäre, ins Verschwei-
gen oder auch als bloßes Verstummen befremden mögen, letztlich
aber der tiefsten Not einer Selbsterhaltung entsprangen, über die sich
post festum nicht einfach richten lasse. Beispiele einer in actu errunge-
nen kritischen Distanz, die erlaubte, das Kriegserlebnis in seiner sinn-
fremden Realität zur Sprache zu bringen (wie Blaise Cendrars J’ai tué
von 1918), sind nicht nur in der französischen Literatur höchst selten.
Die Periode von 1914 bis 1918 sei in allen europäischen Literaturen
mehr oder minder ein Black out. Dieser Krieg, mit seinen Material-
schlachten der erste ‘absolute’, habe nicht allein einem kriegerischen
Heroismus ein Ende gesetzt, sondern zugleich die idealistische Litera-
tur einer säkularen Epoche getötet. Die moderne Ästhetik der Negati-
vität, in deren Namen wir heute die affirmative Kriegspoesie verdam-
men, sei letztlich erst dem Widerspruch gegen die Verklärung des
Inhumanen, gegen die Ästhetisierung der Politik wie gegen die Politi-
sierung der Kunst, entsprungen. Sie übersehe, daß selbst ein für den
Krieg und sein Vaterland engagierter, an die „pureté de la France“
glaubender Dichter wie Apollinaire nie aufgehört habe, in seinen
Kriegsgesängen Verse von eigentümlicher Schönheit zu schaffen, den
Konflikt von Liebe und Tod in einer persönlichen Mythologie aus-
zutragen und mitten in dem überwältigenden Geschehen die Idee
einer Erneuerung der Welt durch das poetische Wort unbeirrbar zu
verfechten.
Wenn ich mich der psychohistorischen Rechtfertigung Apollinaires
auch nicht länger verschließen kann, die gewiß ein neues Licht auf die
Aporie des Sagbaren und des Unsagbaren in der Epoche totaler Kriege
wirft, hat mich Claude Debons Versuch seiner ästhetischen Rehabili-
tation doch nicht voll überzeugt. Gewiß finden sich in seiner späten
Lyrik Verse und Strophen von poetischer Kraft oder Stücke (wie in
Case d’Armons), die das avantgardistische Experiment der Calligram-
mes weiterführen. Und gewiß hebt sich die Kriegspoesie Apollinaires
insgesamt durch spezifische Grundthemen wie die provokative Ver-
schmelzung oder Reversibilität von Krieg und Eros, die Sakralisierung
von Raum und Horizonten der Schlacht, die magische Potenz von
Waffen und Material, die Erneuerung der Zeiten durch das Blutbad
und den Horror des Kampfs, von der bemitleidenswerten Mediokrität
der sonstigen Produktion patriotischer Kriegsliteratur ab. Doch reicht
diese Originalität aus, um dem Kriegsdichter Apollinaire, der sich als
Prophet einer neuen Zeit stilisierte, den gleichen Rang wie dem Avant-
Hans Robert Jauss
bewältigt werden konnte. Er habe Reaktionen ausgelöst, die uns als
Flucht ins Engagement, in Stoizismus, ins Imaginäre, ins Verschwei-
gen oder auch als bloßes Verstummen befremden mögen, letztlich
aber der tiefsten Not einer Selbsterhaltung entsprangen, über die sich
post festum nicht einfach richten lasse. Beispiele einer in actu errunge-
nen kritischen Distanz, die erlaubte, das Kriegserlebnis in seiner sinn-
fremden Realität zur Sprache zu bringen (wie Blaise Cendrars J’ai tué
von 1918), sind nicht nur in der französischen Literatur höchst selten.
Die Periode von 1914 bis 1918 sei in allen europäischen Literaturen
mehr oder minder ein Black out. Dieser Krieg, mit seinen Material-
schlachten der erste ‘absolute’, habe nicht allein einem kriegerischen
Heroismus ein Ende gesetzt, sondern zugleich die idealistische Litera-
tur einer säkularen Epoche getötet. Die moderne Ästhetik der Negati-
vität, in deren Namen wir heute die affirmative Kriegspoesie verdam-
men, sei letztlich erst dem Widerspruch gegen die Verklärung des
Inhumanen, gegen die Ästhetisierung der Politik wie gegen die Politi-
sierung der Kunst, entsprungen. Sie übersehe, daß selbst ein für den
Krieg und sein Vaterland engagierter, an die „pureté de la France“
glaubender Dichter wie Apollinaire nie aufgehört habe, in seinen
Kriegsgesängen Verse von eigentümlicher Schönheit zu schaffen, den
Konflikt von Liebe und Tod in einer persönlichen Mythologie aus-
zutragen und mitten in dem überwältigenden Geschehen die Idee
einer Erneuerung der Welt durch das poetische Wort unbeirrbar zu
verfechten.
Wenn ich mich der psychohistorischen Rechtfertigung Apollinaires
auch nicht länger verschließen kann, die gewiß ein neues Licht auf die
Aporie des Sagbaren und des Unsagbaren in der Epoche totaler Kriege
wirft, hat mich Claude Debons Versuch seiner ästhetischen Rehabili-
tation doch nicht voll überzeugt. Gewiß finden sich in seiner späten
Lyrik Verse und Strophen von poetischer Kraft oder Stücke (wie in
Case d’Armons), die das avantgardistische Experiment der Calligram-
mes weiterführen. Und gewiß hebt sich die Kriegspoesie Apollinaires
insgesamt durch spezifische Grundthemen wie die provokative Ver-
schmelzung oder Reversibilität von Krieg und Eros, die Sakralisierung
von Raum und Horizonten der Schlacht, die magische Potenz von
Waffen und Material, die Erneuerung der Zeiten durch das Blutbad
und den Horror des Kampfs, von der bemitleidenswerten Mediokrität
der sonstigen Produktion patriotischer Kriegsliteratur ab. Doch reicht
diese Originalität aus, um dem Kriegsdichter Apollinaire, der sich als
Prophet einer neuen Zeit stilisierte, den gleichen Rang wie dem Avant-