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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0035
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Die Epochenschwelle von 1912

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major kann viertens aber auch an eine sakrale Zäsur der mittelalter-
lichen Zeitrechnung erinnern35: im Missale romanum werden die
Wochentage, beginnend mit dem Sonntag, als feria prima, secunda etc.
benannt und die auf sie fallenden hohen Feiertage mit major aus-
gezeichnet (sexta major für Karfreitag), so daß Quinta major den
‘Großen Donnerstag’ (oder Gründonnerstag) mit dem Ereignis des
Abendmahls (feria quinta de cena domini) aufruft. Setzt man diese
Bedeutung ein, so hätte Apollinaire den „horlogisme“ von Lundi Rue
Christine damit gekrönt, die Verwandlung der willkürlich gewählten
Stunde der Verabredung in das euphorische Ereignis einer Quinta
major anzuzeigen - die Stunde der Transsubstantation des Alltags in
die Poesie des profanen Dîners in der Brasserie Rue Christine, in die
Feierstunde der orphischen Harmonie des modernen Lebens!
IV.
„Das Jahr 1912 ist ein Gipfeljahr europäischer Kunst. Das an vielen
Orten getrennt und aus verschiedenen Ansätzen Begonnene ist zu glei-
chen oder ähnlichen Lösungen gekommen. Die großen Entwicklungs-
linien der europäischen Kunst beginnen zu konvergieren36. So lautet
das Fazit einer Rückschau, die bei der Rekonstruktion der berühmten
Ausstellung des „Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und
Künstler“ von 1912 im Abstand von fünfzig Jahren die Epochen-
schwelle zu jener Moderne ansichtig machte, die heute, in der Sicht
einer ausgerufenen ‘Postmoderne’, die Konturen einer abgeschlosse-
nen Epoche anzunehmen scheint. Das Jahr 1912 läßt aber nicht erst
aus der Rückschau auf das, was aus ihm hervorging, sondern schon im
Bewußtsein der Zeitgenossen, der damals hervortretenden Avant-
garde italienischer Futuristen, französischer Kubisten oder Orphisten,
deutscher Expressionisten, angloamerikanischer Imagisten und russi-
scher Kubofüturisten, den Anbruch des Neuen erkennen. Apollinaire,
literarisch wie kunstkritisch der ausgezeichnete Kronzeuge, hat das
emphatische Bewußtsein, daß es die Chance seiner Generation sei,
eine markante Epochenschwelle in der rauschhaft erfahrenen Bewe-
35 Freundlicher Hinweis von Arno Borst.
36 G. v. d. Osten: „Europäische Kunst 1912“, in: Europäische Kunst 1912 - Zum 50. Jah-
restag der Ausstellung des ‘Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde’ in Köln (Kata-
log), Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1962, S. 9.
 
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