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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0034
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Hans Robert Jauss

mengezogen ist (La serveuse rousse a été enlevé par un libraire, v. 37)
und im hintergründigen Humor vieler Äußerungen (z. B. Vous êtes un
mec à la mie de pain, v. 19) gewiß schon bemerkt haben, bevor im
Schlußvers der hohe Ton der Poesie bombastisch und ironisch zu-
gleich aufgerufen wird, um die Stunde zu markieren, die das simultan
fluktuierende Leben als Aspekte des einen Schauplatzes und als
Abschattungen des einen Augenblicks einbegreift und verzeichnet:
L’Honneur tient souvent à l’heure que marque la pendule / La quinte
major.
Der Vers ist schwerlich noch als Gesprächsfetzen zu verstehen. Er
gibt sich als zitierte, altertümliche Sentenz aus einem vergilbten
Ehrenkodex und stützt - mit der Konnotation eines Duells - die Ver-
mutung, daß schon der Titel (ineins vielleicht mit v. 39: Après déjeuner
café du Luxembourg) den Zeitpunkt einer Verabredung, wenn nicht
den willkürlich antizipierten Moment meinen könnte, an dem das
Konversationsgedicht - wie ein Ready-made - in die Realität einge-
schrieben werden soll. Die feierliche Benennung der Stunde pflegt
nach drei verschiedenen Bedeutungen interpretiert zu werden, zu der
ich noch eine vierte, bisher unbemerkte, stelle. Die Quinta major (im
Poker auch: royal flash) bezeichnet im Kartenspiel eine mit dem As
beginnende Folge von fünf Karten derselben Farbe, woraus man ablei-
ten kann, daß der Triumph des Schlußverses die immanente Poetik
des Gedichts enthalte, das dann als Spiel mit immer neu zu mischen-
den Karten und auszulegenden Konstellationen zu verstehen wäre.
Die Quinta major bezeichnet zweitens einen großen Intervall in der
Harmonielehre und könnte in der markanten Stellung eines letzten
Verses, der mit seinem hochpathetischen Ton den Prosaismus aller
vorhergehenden Verse kontrastiert, den Schlußakkord einer orphi-
schen Harmonie meinen, die im Jetzt und Hier aus der chaotischen
Fülle des simultanen Lebens erklingt, wäre die übermäßige Quinte
nicht eine in der klassischen Musik nicht gebrauchte Dissonanz, was
diese Deutung gleich wieder ironisiert. Die Quinte major kann drittens
(laut Larousse) auch die Argotbedeutung eines „grand soufflet“ an-
nehmen; dann ließe sich der Text als ein Stück Apachen-Poesie
interpretieren, deren provokativem Inhalt („aventure louche“) und
nicht weniger provokativen Form die Schlußverse mit einem „rappel à
l’ordre“ (‘bis hierher und nicht weiter!4) das Ende setzen34. Die Quinta

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Claude Debon: Guillaume Apollinaire après Alcools, I: Calligrammes - Le poète et la
guerre, Paris 1981, S. 76.
 
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