Die Epochenschwelle von 1912
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Form des Gedichts gewinnt sie für den simul et singulariter aufneh-
menden und deutenden Leser eine sekundäre, von Verseinheit zu
Verseinheit sich verdichtende und im „horlogisme“ des feierlichen
Schlußverses zutage tretende Einheit - die Einheit eines erfüllten,
euphorisch aufgenommenen Augenblicks, der im kontingenten Jetzt
und Hier33 die unerahnte Vielfalt des simultanen modernen Lebens
ansichtig macht.
L’honneur tient souvent à l’heure que marque la pendule / La quinte
major (v. 47/48): es ist die im Glockenschlag von v. 12 angekündigte,
nun erfüllte Stunde, die dem synchronen Geschehen die Weihe einer
„harmonie représentative“ geben und die prosaischen Gesprächs-
fetzen mit ihren unerwartbaren semantischen Kontrasten rückwirkend
gleichsam poetisieren soll. Das Gedicht setzt in v. 1-6 provokativ mit
dem am meisten schockierenden Stück Alltagsprosa, der Verabredung
von zwei Ganoven zu einem Einbruchdiebstahl, ein. Nach dieser
Eröffnung, die als das einzig konsistente Gespräch des Gedichts in
platter Eindeutigkeit zu verstehen ist, beginnt die zerstückelte Konver-
sation, die dem Leser die schon erörterte Arbeit der Entzifferung, des
probeweisen Durchspielens verschiedener Bedeutungs- und Um-
deutungsmöglichkeiten aufgibt. Diese Arbeit wird in dem Maße zum
genießenden Verstehen, wie die Lektüre - dem Streben nach Ver-
einheitlichung widerstehend - die Kontrastwirkungen der aufein-
anderfolgenden Verse (z. B. v. 29 ff: Voici Monsieur / La bague est en
malachite / Le sol est semé de sciure), die Versgruppierungen (z. B.
wenn gerade nach der auch inhaltlich ganz ‘ungereimten’, für jede
Zeile einen anderen Referenten suggerierenden Strophe II ironisch die
Einzeilerstrophe: III: Ça a l’air de rimer plaziert ist) und die Bedeu-
tungsreihen (z. B. in der Naheinstellung auf das kümmerliche Mobiliar
und die banalen Reden im Bierlokal, str. IV, VI, und der Ferneinstel-
lung auf verlockende Reiseziele, v. 9, str. IX, v. 42/43) wahrzunehmen
beginnt. Eine solche Lektüre kann hier nicht Schritt für Schritt vor-
geführt werden; sie würde eine unterschwellige Poetisierung in ‘küh-
nen Metaphern’ der Alltagssprache (z. B. Cette dame a le nez comme un
ver solitaire, v. 20), im Fait divers, der zu einem einzigen Vers zusam-
33 Daß dem kontingenten Jetzt ein ebenso kontingentes Hier entsprechen soll, bezeugt
das Biographicum, wie Apollinaire eines Tages eine Gruppe von Freunden zu über-
raschen suchte, als er sie an einen ruhigen Ort fuhren wollte: „Ce chemin en zigzag
devait nous amener à la Rue Christine où, pour que soit enfin sauvée la noble face de
notre ami, se proposait une brasserie dont rien ne l’empêchait de soutenir qu’il
l’avait reconnu“ (nach Ph. Renaud (1969), S. 305).
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Form des Gedichts gewinnt sie für den simul et singulariter aufneh-
menden und deutenden Leser eine sekundäre, von Verseinheit zu
Verseinheit sich verdichtende und im „horlogisme“ des feierlichen
Schlußverses zutage tretende Einheit - die Einheit eines erfüllten,
euphorisch aufgenommenen Augenblicks, der im kontingenten Jetzt
und Hier33 die unerahnte Vielfalt des simultanen modernen Lebens
ansichtig macht.
L’honneur tient souvent à l’heure que marque la pendule / La quinte
major (v. 47/48): es ist die im Glockenschlag von v. 12 angekündigte,
nun erfüllte Stunde, die dem synchronen Geschehen die Weihe einer
„harmonie représentative“ geben und die prosaischen Gesprächs-
fetzen mit ihren unerwartbaren semantischen Kontrasten rückwirkend
gleichsam poetisieren soll. Das Gedicht setzt in v. 1-6 provokativ mit
dem am meisten schockierenden Stück Alltagsprosa, der Verabredung
von zwei Ganoven zu einem Einbruchdiebstahl, ein. Nach dieser
Eröffnung, die als das einzig konsistente Gespräch des Gedichts in
platter Eindeutigkeit zu verstehen ist, beginnt die zerstückelte Konver-
sation, die dem Leser die schon erörterte Arbeit der Entzifferung, des
probeweisen Durchspielens verschiedener Bedeutungs- und Um-
deutungsmöglichkeiten aufgibt. Diese Arbeit wird in dem Maße zum
genießenden Verstehen, wie die Lektüre - dem Streben nach Ver-
einheitlichung widerstehend - die Kontrastwirkungen der aufein-
anderfolgenden Verse (z. B. v. 29 ff: Voici Monsieur / La bague est en
malachite / Le sol est semé de sciure), die Versgruppierungen (z. B.
wenn gerade nach der auch inhaltlich ganz ‘ungereimten’, für jede
Zeile einen anderen Referenten suggerierenden Strophe II ironisch die
Einzeilerstrophe: III: Ça a l’air de rimer plaziert ist) und die Bedeu-
tungsreihen (z. B. in der Naheinstellung auf das kümmerliche Mobiliar
und die banalen Reden im Bierlokal, str. IV, VI, und der Ferneinstel-
lung auf verlockende Reiseziele, v. 9, str. IX, v. 42/43) wahrzunehmen
beginnt. Eine solche Lektüre kann hier nicht Schritt für Schritt vor-
geführt werden; sie würde eine unterschwellige Poetisierung in ‘küh-
nen Metaphern’ der Alltagssprache (z. B. Cette dame a le nez comme un
ver solitaire, v. 20), im Fait divers, der zu einem einzigen Vers zusam-
33 Daß dem kontingenten Jetzt ein ebenso kontingentes Hier entsprechen soll, bezeugt
das Biographicum, wie Apollinaire eines Tages eine Gruppe von Freunden zu über-
raschen suchte, als er sie an einen ruhigen Ort fuhren wollte: „Ce chemin en zigzag
devait nous amener à la Rue Christine où, pour que soit enfin sauvée la noble face de
notre ami, se proposait une brasserie dont rien ne l’empêchait de soutenir qu’il
l’avait reconnu“ (nach Ph. Renaud (1969), S. 305).