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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0027
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Die Entstehung der historischen Biographie

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geht gleichfalls aus dem erhaltenen Teil der Vorrede hervor, die den Leser auf die
Unterschiede aufmerksam macht, die hinsichtlich der moralischen Maßstäbe und
Kategorien zwischen den Völkern bestehen.
Nepos war sich des Unterschiedes zwischen Historie und Biographie bewußt
und betrachtete die Viri illustres keinesfalls als Geschichtsschreibung (Pelop. 1,1).
Über die lateinischen Historiker verfaßte er eine eigene Abhandlung, in der er
besonders bedauerte, daß es Cicero nicht vergönnt war, ein Geschichtswerk zu
hinterlassen (fr. 18 Peter). In der Atticus-Biographie, der einzigen Darstellung eines
Zeitgenossen im erhaltenen Werk (J. Geiger, Historia 29,1980,112ff. = Geiger II),
hat der starke persönliche Eindruck, den Nepos von seinem Helden empfing, den
Autor ein überraschendes Faktum gewahr werden lassen. Unter den besonderen,
unverwechselbaren Bedingungen der Bürgerkriege vermochte Atticus genau die
Vorzüge und die Anerkennung durch die Mitwelt, die ein Angehöriger der römi-
schen Oberschicht nach herkömmlicher Meinung durch sein Engagement im
Leben des Staates, vor allem in seinen Kontroversen, erwarb, durch konsequente
Abstinenz von aller Politik zu erringen. Loyalität (pietas) und Hilfsbereitschaft in
den sozialen Nahverhältnissen (amicitiae) verschafften ihm, wie Nepos mit dem
Verweis auf immer wieder neue Begebenheiten bewundernd darlegt, bei allen Per-
sonen und Gruppen der in der Sequenz von Bürgerkriegen tief zerstrittenen römi-
schen Gesellschaft Rang, Einfluß, Ansehen und nicht zuletzt großen materiellen
Gewinn. Er bekleidete niemals ein öffentliches Amt, das üblicherweise die Stellung
in der Gesellschaft bestimmte, und schlug sich niemals auf die Seite einer der strei-
tenden Parteien. Nepos wird nicht müde, diese Lebensleistung zu bewundern, und
sie stünde ihm nicht mit solcher Deutlichkeit als schlechthin verblüffendes und in
dieser Zeit einzigartiges Phänomen vor Augen, wäre ihm nicht eine Tradition vor-
gegeben, nach der man das Leben eines wahrhaft großen Römers nur beschreiben
kann, wenn man von seinen Leistungen im Staat, seiner Beteiligung an den das
öffentliche Leben bestimmenden Kämpfen und den sich dabei offenbarenden
Tugenden zu berichten weiß. Die Paradoxie im durch und durch lobenswerten
Leben des Atticus lag nach der Darstellung des Nepos gerade darin, daß es zu römi-
schen, von einer römischen Umwelt anerkannten Vorzügen führte, obwohl Atticus
sich wichtigen, in der römischen Gesellschaft jener Tage gültigen Voraussetzungen
für ihren Erwerb gerade entzog. Wäre Atticus zu jener Zeit Held einer griechischen,
an den Wertmaßstäben philosophischer Individualethik orientierten Biographie
des „plutarchischen“ Typus geworden, hätte sein Leben dem Biographen zweifellos
nicht jenes Erstaunen abgenötigt, dem Nepos so lebhaften Ausdruck gibt.
Daß freilich Atticus in den wirren Zeitläufen zur Unabhängigkeit des morali-
schen Urteils fand, die seinen Lebensweg bestimmte und für die auch Ciceros an
ihn gerichtete Briefe an mehr als einer Stelle zeugen, erklärt sich gewiß zum guten
Teil aus seiner engen Vertrautheit mit griechischer Lebensweise und epikureischer
Philosophie. Daß in seinem Lebenslauf ein Stück griechisch geprägter Humanität
 
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