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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0032
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Albrecht Dihle

tung des obsequium trotz dieses Zusatzes aus dem Munde eines Senators klingen
mußte, mag man daran ermessen, daß im Bericht der ‘Historien’ der berüchtigte
Delator Eprius Marcellus diese Verhaltensweise empfiehlt (4,8). In der freimütigen
Rede, mit der sich der Ritter Μ. Terentius gegen den Vorwurf verteidigt, er sei ein
Parteigänger Seians gewesen (ann. 6,8,4), heißt es: tibi summum rerum iudicium di
dedere, nobis obsequii gloria relicta est. Die Ironie ist unüberhörbar (vgl. R. Syme:
Tacitus, Oxford 1958, 227 = Syme I). Ann. 4, 20,3 ist von den beiden Extremen
eines deforme obsequium und einer abrupta contumacia gegenüber dem Princeps
die Rede.
Im ‘Agricola’ zeigt Tacitus also, daß sich der Wert eines Menschenlebens weni-
ger an unveränderlichen Tugendkatalogen als im Hinblick auf die besonderen
Erfordernisse der geschichtlichen Situation ermessen läßt. Unter den Bedingungen
der domitianischen Herrschaft bilden die Verhaltensweisen des Agricola nicht nur
einen individuellen Tugend-Katalog, sondern bedeuten ein Politikum, weil sie dem
Staat großen Nutzen gebracht haben. Im ‘Dialogus’ wird Tacitus dann auf ähnliche
Weise das Urteil über den Stand der Beredsamkeit von statischen Normen lösen
und auf die jeweiligen geschichtlichen Bedingungen beziehen.
(Geza Alföldy macht mich mit Recht darauf aufmerksam, daß Tacitus Nachrufe
der o. S. 15 beschriebenen Art viel eher unscheinbaren, aber durch Leistung aus-
gewiesenen Gestalten seiner Darstellung als den bekannten Helden der Senats-
opposition widmet. Das stimmt genau zur explizit gerechtfertigten Tendenz des
‘Agricola’.)
G. S. Knabe (Vest. Drevn. Ist. 1980, 4,53ff.) versucht demgegenüber, Tacitus’
‘Agricola’ in ein Entwicklungsschema römischer biographischer Schriftstellerei
einzuordnen, das drei Stadien vorsieht: Zuerst, etwa bei den Scipionen oder dem
Censorier Cato, habe man sich nur für die Leistungen im Staat interessiert, dann,
etwa zur Zeit Ciceros, Sallusts oder Nepos’, diese und die persönlichen Qualitäten
des Dargestellten gleichmäßig berücksichtigt und zuletzt, wie man das bei Seneca
oder Tacitus sehen könne, nur noch auf die persönlichen Eigenschaften geachtet,
die sich im Dienst des Reiches ebensowohl zeigen konnten wie in der Opposition
gegen den Prinzipat. Die Uneinheitlichkeit in der Komposition des ‘Agricola’ spie-
gele also nur die Krisensituation der Gesellschaft. So richtig die Beobachtung ist,
daß es den potentiellen Konflikt zwischen der auf eine philosophische Individual-
ethik bezogenen moralische Kultur der Oberschicht im Kaiserreich und jeder denk-
baren Staatsethik unter den Verhältnissen des Alten Rom noch nicht geben konnte,
so wenig erklärt diese Periodisierung, Entstehung und Wandlung biographischer
Schriftstellerei, zumal unter dem Stichwort Biographie (biografija) ganz verschie-
dene literarische Erzeugnisse miteinander in Beziehung gesetzt werden. Personen-
darstellung und -bewertung schlechthin, um die es hier eigentlich geht, sind nicht
an die literarische Gattung der Biographie gebunden.
Wenn die Überlegenheit der Lebensleistung Agricolas gegenüber dem letztlich
 
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