Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0031
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Entstehung der historischen Biographie

29

Oswyn Murray äußerte vor einigen Jahren den Gedanken (Hist. 14,1965,41 ff.),
daß man den ‘Agricola’ als Antwort auf jene Biographien verstehen müsse, die
stoisch geprägte Senatoren wie Junius Rusticus und Herennius Senecio von ebenso
stoisch motivierten Vertretern der Senatsopposition gegen einen zur Despotie sich
wandelnden Prinzipat wie Thrasea Paetus und Helvidius Priscus verfaßten. Es
scheint in solchen Schriften um den Erweis gegangen zu sein, daß der aufrechte
Mann, der als Senator und Stoiker unter der Tyrannei Neros oder Domitians zu
leben hatte, nur als Märtyrer der Freiheit seiner Philosophie und seinem Stand treu
bleiben konnte. Auch Tacitus ist offenbar von ähnlichen Gefühlen bewegt gewesen,
wenn er im Vorwort des ‘Agricola’ sich und seine Altersgenossen, die den Terror
Domitians überlebt haben, non modo aliorum sed etiam nostri superstites nennt
(3,2). Es verrät dieser Ausdruck ein Bewußtsein vom grundlegenden Unterschied
der Epochen, über die sich die Lebenszeit des Autors erstreckt, und das ist dem Bio-
graphen des plutarchischen Typus fremd.
Das offene Bekenntnis, in der Rolle des Zuschauers Mitschuld am Tod der Op-
fer aus den Reihen des eigenen Standes zu tragen (45,1 f.), zeigt deutlich, daß der
Gedanke, nur mit dem Tod sei in Domitians letzten Jahren für einen Mann in seiner
Stellung die moralische Integrität zu erkaufen gewesen, Tacitus nicht fremd war.
Freilich impliziert diese Auffassung, zumal wenn sie aus philosophischer, stoi-
scher Überzeugung hergeleitet wird, den moralischen Vorrang des Strebens nach
individueller Vollkommenheit vor möglichen Forderungen des Gemeinwesens.
Das entspricht ganz der Tradition hellenistischer Philosophie, und zwar aller
Schulen, schwerlich jedoch römischer Überlieferung. Die Senatoren stoischer
Observanz, die sich als Verfasser jener Heiligen - oder Märtyrerviten bestätigen,
entfernten sich ungeachtet ihres Festhaltens am Geist der Republik von einem
wichtigen Strang römischer Tradition.
An diesem Punkt setzt Tacitus’ Kritik ein, und eben hier liegt wohl der Grund
für den weiten Spielraum, den er rein historiographischen Elementen in einer Bio-
graphie einräumt. Agricolas Leben hat gezeigt, daß es auch unter einem schlimmen
Kaiser Männer geben kann (42,4), die für das Gemeinwesen Großes und Bleiben-
des leisten. Die ambitiosa mors, die den Ruhm der stoischen Märtyrer begründet,
dient nur ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit und ist für die res publica
nutzlos. Sie beruht deshalb auf einer inanis iactatio libertatis (42,4). Mit dem Wort
libertas kann ebensowohl die politische Unabhängigkeit des römischer Tradition
verpflichteten Senators wie die sittliche Autarkie des stoischen Weisen gemeint
sein, der keiner Autorität unterworfen ist. Aber es handelt sich in jedem Fall um
eine inanis iactatio libertatis, weil sie, anders als modestia und obsequium Agri-
colas, dem Staat keinen Nutzen bringt. Agricolas Verhaltensweisen sind deshalb
jedoch nicht dieTugenden des zur Unterwerfung unter den Willen des Herrn
bestimmten Sklaven, weil sie sich mit vigor und industria, also Vorzügen nach alt-
römischer Wertvorstellung, verbinden. Wie befremdlich aber eine solche Bewer-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften