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Albrecht Dihle
die Regierungszeit des Kaisers (2,126-130) fehlt auch jede durchgehend chronolo-
gische Erzählung der Ereignisse. An ihre Stelle tritt, dem Verfahren einer suetoni-
schen Biographie vergleichbar, ein nach Themen angeordneter Katalog der Maß-
nahmen, Taten und auch Leiden (130, 3-5) des Tiberius, ihrer Auswirkung auf
Staat und Volk nebst einer moralischen Auswertung.
Gewiß konnte Velleius mit dieser biographisch akzentuierten Geschichts-
schreibung an spezifisch römische Tradition anknüpfen. Auch das Werk, das Cicero
von seinem Freund Lucceius erbat (s. o. S. 14), hätte, wäre es zustandegekommen,
mit Sicherheit biographische Elemente eingeschlossen, und dasselbe galt gewiß für
die res gestae des Pompeius Strabo und des Pompeius Magnus, die der Freige-
lassene L. Voltacilius Pilutus verfaßte und die Cornelius Nepos (s. o. S. 23) ausdrück-
lich als historiae bezeichnete. Lucceius sollte eine historische Monographie vor-
legen, und eine solche war gewiß auch das Werk des Voltacilius, während sich bei
Velleius und Tacitus das biographische Element mit einer Universal- bzw. Zeit-
geschichte verbindet. Aber gerade auch dafür wird es in der römischen Annalistik
viele Anknüpfungspunkte gegeben haben, denn bei Cincius Alimentus, Postumius
Albinus, Calpurnius Piso Frugi, C. Fannius und vielen anderen haben mindestens
die autobiographischen Details nicht gefehlt.
Es zeigt sich also eine für Rom typische Affinität zwischen biographischer und
historiograpbischer Schriftstellerei, die wir oben (S. 22) bereits aus der Perspektive
der Biographie zu bedenken hatten.
Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch in Rom für die Autoren
so gut wie für das Lesepublikum ein gewichtiger Unterschied zwischen Biographie
und Historie bestand. An der soeben erwähnten Stelle (o. S. 23) zitiert Sueton eine
Äußerung des Cornelius Nepos, nach der dieser es für bemerkenswert hielt, daß
Voltacilius Pilutus nicht nur der erste Freigelassene, sondern offenbar der erste
nicht zu den honestissimi zu rechnende Autor gewesen sei, der in Rom ein
Geschichtswerk (historiae) verfaßte. Dem hier angedeuteten sozialen Vorrang der
Geschichtsschreibung, der auch für die ganze frühe Kaiserzeit gilt, entspricht die
höhere Würde ihrer Gegenstände. Tacitus verschmäht es ausdrücklich, den Bericht
über ein ereignisarmes Jahr mit Angaben über Einzelheiten kaiserlicher Bauten
aufzufüllen (ann. 13, 31,1), mit Stoff also, der gerade in Kaiserbiographien nicht
fehlen durfte.
Sir Ronald Syme (Mus. Helv. 37, 1980,104ff. = Syme II) hat in diesem Zusam-
menhang auf das zweite Prooemium im Geschichtswerk des Ammianus Marcelli-
nus hingewiesen. Der Autor setzt sich dort mit Kritikern auseinander, die ihm
ankreiden, daß er ausgelassen habe, „was der Kaiser an der Tafel sprach oder wie
man den einfachen Soldaten für ein Dienstvergehen zu bestrafen pflegte“. Ammian
beruft sich dagegen auf die praecepta historiae, die vom Historiker verlangen, dis-
currere per negotiorum celsitudines ... non humilium minutias indagare causarum
(26, 1,1). Es kann beiseite bleiben, daß Ammian keineswegs darauf verzichtet, in
Albrecht Dihle
die Regierungszeit des Kaisers (2,126-130) fehlt auch jede durchgehend chronolo-
gische Erzählung der Ereignisse. An ihre Stelle tritt, dem Verfahren einer suetoni-
schen Biographie vergleichbar, ein nach Themen angeordneter Katalog der Maß-
nahmen, Taten und auch Leiden (130, 3-5) des Tiberius, ihrer Auswirkung auf
Staat und Volk nebst einer moralischen Auswertung.
Gewiß konnte Velleius mit dieser biographisch akzentuierten Geschichts-
schreibung an spezifisch römische Tradition anknüpfen. Auch das Werk, das Cicero
von seinem Freund Lucceius erbat (s. o. S. 14), hätte, wäre es zustandegekommen,
mit Sicherheit biographische Elemente eingeschlossen, und dasselbe galt gewiß für
die res gestae des Pompeius Strabo und des Pompeius Magnus, die der Freige-
lassene L. Voltacilius Pilutus verfaßte und die Cornelius Nepos (s. o. S. 23) ausdrück-
lich als historiae bezeichnete. Lucceius sollte eine historische Monographie vor-
legen, und eine solche war gewiß auch das Werk des Voltacilius, während sich bei
Velleius und Tacitus das biographische Element mit einer Universal- bzw. Zeit-
geschichte verbindet. Aber gerade auch dafür wird es in der römischen Annalistik
viele Anknüpfungspunkte gegeben haben, denn bei Cincius Alimentus, Postumius
Albinus, Calpurnius Piso Frugi, C. Fannius und vielen anderen haben mindestens
die autobiographischen Details nicht gefehlt.
Es zeigt sich also eine für Rom typische Affinität zwischen biographischer und
historiograpbischer Schriftstellerei, die wir oben (S. 22) bereits aus der Perspektive
der Biographie zu bedenken hatten.
Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch in Rom für die Autoren
so gut wie für das Lesepublikum ein gewichtiger Unterschied zwischen Biographie
und Historie bestand. An der soeben erwähnten Stelle (o. S. 23) zitiert Sueton eine
Äußerung des Cornelius Nepos, nach der dieser es für bemerkenswert hielt, daß
Voltacilius Pilutus nicht nur der erste Freigelassene, sondern offenbar der erste
nicht zu den honestissimi zu rechnende Autor gewesen sei, der in Rom ein
Geschichtswerk (historiae) verfaßte. Dem hier angedeuteten sozialen Vorrang der
Geschichtsschreibung, der auch für die ganze frühe Kaiserzeit gilt, entspricht die
höhere Würde ihrer Gegenstände. Tacitus verschmäht es ausdrücklich, den Bericht
über ein ereignisarmes Jahr mit Angaben über Einzelheiten kaiserlicher Bauten
aufzufüllen (ann. 13, 31,1), mit Stoff also, der gerade in Kaiserbiographien nicht
fehlen durfte.
Sir Ronald Syme (Mus. Helv. 37, 1980,104ff. = Syme II) hat in diesem Zusam-
menhang auf das zweite Prooemium im Geschichtswerk des Ammianus Marcelli-
nus hingewiesen. Der Autor setzt sich dort mit Kritikern auseinander, die ihm
ankreiden, daß er ausgelassen habe, „was der Kaiser an der Tafel sprach oder wie
man den einfachen Soldaten für ein Dienstvergehen zu bestrafen pflegte“. Ammian
beruft sich dagegen auf die praecepta historiae, die vom Historiker verlangen, dis-
currere per negotiorum celsitudines ... non humilium minutias indagare causarum
(26, 1,1). Es kann beiseite bleiben, daß Ammian keineswegs darauf verzichtet, in