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Albrecht Dihle
Bedingungen des römischen Weltreiches (hist. 1,16; ann. 4, 33,1) und zur Erhal-
tung von Frieden und Sicherheit (hist. 1,1). Da die Menschen weder völlige Freiheit
noch völlige Knechtschaft ertragen können (hist. 1,16 Ende), erscheint ihm, jeden-
falls in den frühen Tagen Trajans, das Adoptivkaisertum, in dem der Herrscher den
jeweils Besten zu seinem Nachfolger macht, als ideale Mischung zweier eigentlich
unvereinbarer Dinge, der libertas und des principatus (Agric. 3,1; hist. 1,16). In den
Annalen läßt Tacitus dann allerdings keinen Zweifel daran, daß er den fiktiven
Charakter aller im Prinzipat eingehaltenen Formen einer republikanischen Verfas-
sung durchschaut. Augustus hat im Zustand allgemeiner Erschöpfung die ganze
Macht unter dem Namen des Prinzipats in seine unbeschränkte Verfügungsgewalt
(imperium) gebracht (ann. 1,1,1), und daran ändert sich in den folgenden Genera-
tionen nichts (vgl. Syme 1411 ff.). In Tacitus’ Augen ist das Römerreich eine Monar-
chie, und seine Geschicke werden nach dynastischen Gesichtspunkten gelenkt, so
viel die Akteure auch von der res publica, den Rechten des Senates u. dgl. reden
mögen.
Niemand wird leugnen, daß Tacitus’ erhaltenes Werk trotz aller Klagen des
Autors über die Unergiebigkeit der Kaisergeschichte auch viele Ereignisse größe-
ren Stiles erzählt. Allerdings gilt das, sicherlich nicht nur wegen des Inhaltes der
zufällig erhaltenen Partien, für die Historien (vgl. hist. 1,3) in weit höherem Maße
als für das spätere Werk. In diesem überwiegen, wie Tacitus selbst mit Bedauern
feststellt (s. o. S. 39), die Berichte kleinerer, für sich genommen unbedeutender Er-
eignisse am Hof, im Senat oder unter der Bevölkerung Roms und Italiens.
Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Vielzahl der geringfügigen Begeben-
heiten historisches Gewicht dadurch bekommen, daß sie zusammengenommen
Zustandsbilder ergeben. Dabei geht es weniger um den jeweiligen Zustand der
Institutionen, nimmt man einmal den Tacitus in besonderem Maße am Herzen
liegenden Senat aus, als eher um die Beschreibung der Atmosphäre, in der die von
solchen Begebenheiten als Beteiligte oder Zuschauer betroffenen Menschen leben
und von der ihr Denken, Reden und Handeln bestimmt wird. Oben (S. 31 f) wurde
darauf verwiesen, wie bereits im ‘Agricola’ die Kapitel, die das Leben des Helden
nach der Abberufung aus Britannien berichten und in denen keine großen Be-
gebenheiten zu erzählen waren, eine eindrucksvolle Schilderung der beklemmen-
den Atmosphäre enthalten, die das Rom der letzten Jahre Domitians einem Sena-
tor bereithielt. Ähnliche Zustandsschilderungen gibt es in den ‘Annalen’ auf Schritt
und Tritt, etwa die Erzählung vom Ausgang des Piso als Nachspiel der Germanicus-
Episode (3, lOff.) oder Neros Spiel mit Seneca (15, 45ff) nach dessen Entfernung
aus den Staatsgeschäften. Selbst in der Schilderung militärischer Operationen ver-
wendet Tacitus oft größere Kunst auf die Beschreibung der Stimmungen bei Feld-
herr und Truppe als auf die genaue Registrierung der Vorgänge (vgl. die Beispiele
bei Syme 1169 f. u. 184), und immer wieder zeigt sich, wie Tacitus Verhaltensweisen
von Personen und Personengruppen für wichtiger hält als das, was sie wirklich getan
Albrecht Dihle
Bedingungen des römischen Weltreiches (hist. 1,16; ann. 4, 33,1) und zur Erhal-
tung von Frieden und Sicherheit (hist. 1,1). Da die Menschen weder völlige Freiheit
noch völlige Knechtschaft ertragen können (hist. 1,16 Ende), erscheint ihm, jeden-
falls in den frühen Tagen Trajans, das Adoptivkaisertum, in dem der Herrscher den
jeweils Besten zu seinem Nachfolger macht, als ideale Mischung zweier eigentlich
unvereinbarer Dinge, der libertas und des principatus (Agric. 3,1; hist. 1,16). In den
Annalen läßt Tacitus dann allerdings keinen Zweifel daran, daß er den fiktiven
Charakter aller im Prinzipat eingehaltenen Formen einer republikanischen Verfas-
sung durchschaut. Augustus hat im Zustand allgemeiner Erschöpfung die ganze
Macht unter dem Namen des Prinzipats in seine unbeschränkte Verfügungsgewalt
(imperium) gebracht (ann. 1,1,1), und daran ändert sich in den folgenden Genera-
tionen nichts (vgl. Syme 1411 ff.). In Tacitus’ Augen ist das Römerreich eine Monar-
chie, und seine Geschicke werden nach dynastischen Gesichtspunkten gelenkt, so
viel die Akteure auch von der res publica, den Rechten des Senates u. dgl. reden
mögen.
Niemand wird leugnen, daß Tacitus’ erhaltenes Werk trotz aller Klagen des
Autors über die Unergiebigkeit der Kaisergeschichte auch viele Ereignisse größe-
ren Stiles erzählt. Allerdings gilt das, sicherlich nicht nur wegen des Inhaltes der
zufällig erhaltenen Partien, für die Historien (vgl. hist. 1,3) in weit höherem Maße
als für das spätere Werk. In diesem überwiegen, wie Tacitus selbst mit Bedauern
feststellt (s. o. S. 39), die Berichte kleinerer, für sich genommen unbedeutender Er-
eignisse am Hof, im Senat oder unter der Bevölkerung Roms und Italiens.
Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Vielzahl der geringfügigen Begeben-
heiten historisches Gewicht dadurch bekommen, daß sie zusammengenommen
Zustandsbilder ergeben. Dabei geht es weniger um den jeweiligen Zustand der
Institutionen, nimmt man einmal den Tacitus in besonderem Maße am Herzen
liegenden Senat aus, als eher um die Beschreibung der Atmosphäre, in der die von
solchen Begebenheiten als Beteiligte oder Zuschauer betroffenen Menschen leben
und von der ihr Denken, Reden und Handeln bestimmt wird. Oben (S. 31 f) wurde
darauf verwiesen, wie bereits im ‘Agricola’ die Kapitel, die das Leben des Helden
nach der Abberufung aus Britannien berichten und in denen keine großen Be-
gebenheiten zu erzählen waren, eine eindrucksvolle Schilderung der beklemmen-
den Atmosphäre enthalten, die das Rom der letzten Jahre Domitians einem Sena-
tor bereithielt. Ähnliche Zustandsschilderungen gibt es in den ‘Annalen’ auf Schritt
und Tritt, etwa die Erzählung vom Ausgang des Piso als Nachspiel der Germanicus-
Episode (3, lOff.) oder Neros Spiel mit Seneca (15, 45ff) nach dessen Entfernung
aus den Staatsgeschäften. Selbst in der Schilderung militärischer Operationen ver-
wendet Tacitus oft größere Kunst auf die Beschreibung der Stimmungen bei Feld-
herr und Truppe als auf die genaue Registrierung der Vorgänge (vgl. die Beispiele
bei Syme 1169 f. u. 184), und immer wieder zeigt sich, wie Tacitus Verhaltensweisen
von Personen und Personengruppen für wichtiger hält als das, was sie wirklich getan