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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0045
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Die Entstehung der historischen Biographie

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haben. In der Erzählung von den letzten Tagen und Stunden des Vitellius etwa
werden Einzelheiten des Hergangs, wie der Vergleich mit Sueton ergibt, unter-
drückt, der Zustand des abgedankten Kaisers hingegen um so eindringlicher aus-
gemalt (hist. 3, 84; vgl. Syme I 189).
Diese Zustands- und Stimmungsgemälde, auf denen zu einem guten Teil und
mit vollem Recht der Ruhm des Schriftstellers beruht, ergeben sich meist aus der
Verbindung des Berichts über einzelne, für sich genommen geringfügige Ereignisse
mit dem Versuch, die Handlungsweisen der Beteiligten, wenn auch oft nur sugge-
stiv - andeutungsweise, psychologisch zu erläutern. In solchen Partien bestätigt sich
der Satz, mit dem Tacitus das o. zitierte Kapitel (ann. 4,32) über das Fehlen großer,
echter Historiographie würdiger Gegenstände abschließt: non tarnen sine usu füerit
introspicere illa primo aspectu levia, ex quis magnarum saepe rerum motus oriun-
tur. Dieser Satz gibt den deutlichen Hinweis des Autors darauf, daß unter den
Bedingungen des Prinzipates das Augenmerk auf den kleinen, Zustände in Staat
und Gesellschaft illustrierenden Begebenheiten zu liegen habe, da eben hier die
Ursprünge geschichtlichen Wandels zu suchen seien. Das bezieht sich sicherlich
nicht nur auf die nebensächlich erscheinenden Maßnahmen des allmächtigen Kai-
sers und die Vorgänge an seinem Hof, dem Zentrum dieser Macht. Ebenso wird an
die Reaktion der betroffenen Menschen und Menschengruppen zu denken sein.
Davon nämlich, daß unter dem Prinzipat die Menschen anders geworden sind, daß
sie ihre Verhaltensweisen (mores) gegenüber den Zeiten der Republik geändert
haben, ist Tacitus überzeugt. Er kommt darauf, ausdrücklich oder beiläufig, immer
wieder zu sprechen (hist. 2, 38; ann. 3, 55,4; 4, 17,1; 6, 16,1 u.ö.).
Suetons Interesse an Neuerungen im Circus-Betrieb (Dom. 7), Veränderungen
der Kultpraxis (Aug. 31) oder in der Verleihung militärischer Dekorationen (Claud.
24) weist in dieselbe Richtung. Zwar geht es ihm weniger als Tacitus um den
psychisch-moralischen Zustand der Menschen, aber beide richten ihr Hauptaugen-
merk auf Zustände, nicht Ereignisse. Veränderungen der Zustände in Staat und
Gesellschaft, mögen sie nun das Verhalten des Menschen oder die Institutionen
betreffen, fuhren beide vornehmlich auf den Kaiser selbst zurück. Er ist zugleich
Person und Institution, und sein Verhalten, selbst im privatesten Bereich, zeitigt
Wirkungen auf den Zustand von Volk und Reich. Schon Velleius hatte dieses Prin-
zip, natürlich in panegyrischer Absicht, zum Ausdruck gebracht (2, 126,5).
Gewiß läßt Tacitus die res gestae nicht annähernd in dem Umfang zurücktreten,
wie es Sueton tut. Der Wandel in der Wahl des Gegenstandes, den die Verhältnisse
in der Monarchie erzwangen, war eben der historiographischen Tradition, in der
Tacitus stand, ganz und gar entgegengesetzt. Man müßte nach seinen Äußerungen
in den Kapiteln 4,32-33 der Annalen erwarten, daß er alle Möglichkeiten, nicht nur
saeva iussa, fallaces amicitias, perniciem innocentium zu erzählen, mit Freuden
ergriffen habe. Dennoch darf man sagen, daß er dem von ihm selbst erkannten und
bedauerten Zwang gleichsam von sich aus nachgekommen ist, wenn er, wie oben
 
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