Die Entstehung der historischen Biographie
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nicht durch individuelle Tüchtigkeit, sondern durch charismatische Begabung des
Begünstigten rechtfertigen.
Das Nebeneinander einer charismatischen und einer juristischen oder philo-
sophisch-ethischen Auffassung vom Kaiseramt und der es bekleidenden Person
kennzeichnet demnach die politische Gedankenwelt, die dem Leser in der Literatur
jener Zeit entgegentritt. Die Frage, wie ein Mann wie Tacitus das Gewicht der zwei-
ten Auffassung im politischen Geschehen und den Wahrheitswert diesbezüglicher
Äußerungen im Kreise der Machthaber eingeschätzt hat, braucht hier nicht erörtert
zu werden (vgl. Syme I 411 ff).
Wo man im Herrscher ein übermenschliches Wesen verehrt, ist seine Stellung
über, nicht unter dem für die Menschen geltenden Gesetz unbestritten. Die Vor-
stellung vom Herrscher als νόμος έμψυχος konnte diesen Gedanken implizieren (G.
J. A. Aalders, Palingenesia 4, 1968, 310ff), jedoch nicht mit Notwendigkeit, denn
sie war nicht an den Herrscher als göttliches Wesen gebunden. Plutarch etwa (ad
princ. inerud. 3/4, 780 Cff.) führt aus, daß der Herrscher als νόμος έμψυχος zwar
Quelle des Rechtes ist, das aus seiner διάνοια kommt. Aber seine Eigenschaft als
Abbild des Weltgottes beruht aufNachahmung im sittlichen Tun, nicht auf der gött-
lichen Natur des Herrschers, und darum ist nicht notwendigerweise alles, was er tut,
recht und gut, wie es Anaxarchos mit dem Verweis auf Zeus einst Alexander nach
dem an Kleitos begangenen Frevel einreden wollte. Daß Anaxarchos dieses auch
ironisch gemeint haben kann, läßt sich nach dem, was Paul Bernard (Journ. Sav.
1984, 3ff, vor allem 10) darlegt, nicht ausschließen, bezeugt aber gleichwohl das
Vorhandensein einer Vorstellung, nach der seine übermenschliche Natur den Herr-
scher auch über die Rechtsordnung stellt.
Die Jurisprudenz hat immer daran festgehalten, daß der Kaiser unter dem
Gesetz stehe (Ulp. Dig. 1,4,1; Paul. ebd. 32,25; Marcian. ebd. 28,7,14; Cod. lust. 6,
23,3; Gaius, Inst. 1,5; Symmach. rel. 2; 6), und das stimmt zu der von der Philo-
sophie bestimmten Meinung Plutarchs, die noch der Kaiser Julian (or. 2,83; 88/89
= 3,29 Bidez) teilte. Aber der Kaiser ist nach allgemeiner Auffassung eben doch
einzige Quelle des Rechtes für die vielen verschiedenen Völker seines Reiches
(Aristid. or. 26, 107 Keil), und er ist es auch, der die Maßstäbe von Recht und
Gerechtigkeit setzt (A. Dihle, RAC 10,1978, 274ff). Diese aber kommen nicht so
sehr aus objektiven Gegebenheiten, sondern aus den sittlichen Qualitäten des
Kaisers, seiner aequitas, moderatio, iustitia usf. (Plin. paneg. 54,4-6; vgl. F. Prings-
heim, Ges. Abhandl. 1, 1961, 224ff). So nimmt es nicht wunder, wenn auch dort,
wo die schlechthin göttliche Natur des Herrschers entweder bestritten wird oder
doch unerwähnt bleibt, seine Stellung über dem Gesetz durchaus betont werden
kann. In rostris quoque simili religione ipse te legibus subiecisti, legibus, Caesar,
quas nemo principi scripsit, sagt Plinius zu Trajan, dessen bürgernahes Auftreten
er nicht müde wird zu preisen (paneg. 65,1; vgl. Cass. Dio 53,18; Widmer 31 zu
Herodian).
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nicht durch individuelle Tüchtigkeit, sondern durch charismatische Begabung des
Begünstigten rechtfertigen.
Das Nebeneinander einer charismatischen und einer juristischen oder philo-
sophisch-ethischen Auffassung vom Kaiseramt und der es bekleidenden Person
kennzeichnet demnach die politische Gedankenwelt, die dem Leser in der Literatur
jener Zeit entgegentritt. Die Frage, wie ein Mann wie Tacitus das Gewicht der zwei-
ten Auffassung im politischen Geschehen und den Wahrheitswert diesbezüglicher
Äußerungen im Kreise der Machthaber eingeschätzt hat, braucht hier nicht erörtert
zu werden (vgl. Syme I 411 ff).
Wo man im Herrscher ein übermenschliches Wesen verehrt, ist seine Stellung
über, nicht unter dem für die Menschen geltenden Gesetz unbestritten. Die Vor-
stellung vom Herrscher als νόμος έμψυχος konnte diesen Gedanken implizieren (G.
J. A. Aalders, Palingenesia 4, 1968, 310ff), jedoch nicht mit Notwendigkeit, denn
sie war nicht an den Herrscher als göttliches Wesen gebunden. Plutarch etwa (ad
princ. inerud. 3/4, 780 Cff.) führt aus, daß der Herrscher als νόμος έμψυχος zwar
Quelle des Rechtes ist, das aus seiner διάνοια kommt. Aber seine Eigenschaft als
Abbild des Weltgottes beruht aufNachahmung im sittlichen Tun, nicht auf der gött-
lichen Natur des Herrschers, und darum ist nicht notwendigerweise alles, was er tut,
recht und gut, wie es Anaxarchos mit dem Verweis auf Zeus einst Alexander nach
dem an Kleitos begangenen Frevel einreden wollte. Daß Anaxarchos dieses auch
ironisch gemeint haben kann, läßt sich nach dem, was Paul Bernard (Journ. Sav.
1984, 3ff, vor allem 10) darlegt, nicht ausschließen, bezeugt aber gleichwohl das
Vorhandensein einer Vorstellung, nach der seine übermenschliche Natur den Herr-
scher auch über die Rechtsordnung stellt.
Die Jurisprudenz hat immer daran festgehalten, daß der Kaiser unter dem
Gesetz stehe (Ulp. Dig. 1,4,1; Paul. ebd. 32,25; Marcian. ebd. 28,7,14; Cod. lust. 6,
23,3; Gaius, Inst. 1,5; Symmach. rel. 2; 6), und das stimmt zu der von der Philo-
sophie bestimmten Meinung Plutarchs, die noch der Kaiser Julian (or. 2,83; 88/89
= 3,29 Bidez) teilte. Aber der Kaiser ist nach allgemeiner Auffassung eben doch
einzige Quelle des Rechtes für die vielen verschiedenen Völker seines Reiches
(Aristid. or. 26, 107 Keil), und er ist es auch, der die Maßstäbe von Recht und
Gerechtigkeit setzt (A. Dihle, RAC 10,1978, 274ff). Diese aber kommen nicht so
sehr aus objektiven Gegebenheiten, sondern aus den sittlichen Qualitäten des
Kaisers, seiner aequitas, moderatio, iustitia usf. (Plin. paneg. 54,4-6; vgl. F. Prings-
heim, Ges. Abhandl. 1, 1961, 224ff). So nimmt es nicht wunder, wenn auch dort,
wo die schlechthin göttliche Natur des Herrschers entweder bestritten wird oder
doch unerwähnt bleibt, seine Stellung über dem Gesetz durchaus betont werden
kann. In rostris quoque simili religione ipse te legibus subiecisti, legibus, Caesar,
quas nemo principi scripsit, sagt Plinius zu Trajan, dessen bürgernahes Auftreten
er nicht müde wird zu preisen (paneg. 65,1; vgl. Cass. Dio 53,18; Widmer 31 zu
Herodian).