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Albrecht Dihle
Vor diesem Hintergrund sind auch Tacitus’ Aussagen über die Stellung des
Kaisers zu Recht und Gesetz zu sehen. Im 3. Annalenbuch gibt der Autor einen
Überblick über die Geschichte der Gesetzgebung (26-28). Ein ius aequum hat es
nur in der frühen Republik, vor dem Einsetzen der Parteienkämpfe gegeben, zu
deren Instrument die Gesetzgebung wurde. Seit Augustus herrscht allein das Belie-
ben des Princeps: Sexto consulatu Caesar Augustus, potentiae securus, quae trium-
viratu iusserat abolevit deditque iura quis pace et principe uteremur (ann. 3, 28,2).
Daß die Götter den Kaiser das summum rerum iudicium gegeben und allen
übrigen die gloria obsequii übrig gelassen hätten, wie es der Ritter Μ. Terentius in
einer ebenso mutigen wie erfolgreichen Verteidigungsrede Tiberius gegenüber aus-
spricht, war auch Tacitus’ Meinung. Von Augustus sagt er im Proömium der An-
nalen, er habe die ganze Macht (cuncta) unter dem Rechtstitel des Prinzipates (sub
nomine principis) in seine uneingeschränkte Verfügungsgewalt (Imperium) genom-
men. Die sakrale Legitimation dieses Zustandes, die aus dem Kaiser ein mehr als
menschliches Wesen machte, bedeutete gewiß auch in Tacitus’ Augen nur noch
einen kleinen weiteren Schritt.
Senecas Schrift De clementia steht zwar ganz in der Tradition philosophisch
bestimmter Fürstenspiegel, die dem Herrscher den Weg zu einer Tugend zeigen
wollen, in der sich die Natur des Menschen schlechthin zur Vollkommenheit bildet.
Auch die Herrschertugenden sind nach dieser Tradition menschliche Tugenden,
mag auch in der Nachahmung göttlichen Wohltuns ein besonderer Ansporn für das
Handeln des guten Fürsten liegen. Aber schon Seneca betont, daß Nero sein Amt
ohne die ihm eignende bonitas naturalis non ad tempus sumpta gar nicht würde
führen können (1, 1,6). Daß der Kaiser seine Herrscherqualitäten von Natur aus
besitze oder besitzen müsse, hört man in der Literatur jener Zeit wieder und wieder,
wenngleich wie bei Seneca unmittelbar daneben stets auch das alte philosophische
Motiv der Notwendigkeit sorgfältiger Erziehung und Selbsterziehung des Herr-
schers zu seinem Recht kommt. In der Kaiserpanegyrik, vor allem auf griechischer
Seite, fehlt nie der Hinweis auf die charismatische Natur des Herrschers. Der
Rhetor Menander (de gen. demonstr. p. 371,17ff. Sp.) lehrt, man müsse darstellen,
wie die Verrichtungen (έπιτηδεύματα) des Kaisers gleich nach seiner Geburt seine
besondere Qualität ohne „Leistungsdruck“ (άνευ πράξεων αγωνιστικών) erkennen
ließen.
A. Heuss hat eindrucksvoll gezeigt, wie unter den Adoptiv-Kaisern für eine
geraume Zeit die von Hause aus gegensätzlichen Auffassungen vom Wesen des
rechten Herrschers, die einerseits in der Philosophie und in der literarischen Tradi-
tion, andererseits in der Religionspolitik und der Vorstellungswelt der Untertanen
dominiert hatten, miteinander versöhnt wurden. Im Zeichen dieser Versöhnung
wurde auch Alexander der Große ein allerseits anerkanntes Vorbild, in dessenPer-
son sich numinose Kraft und ans Ziel gelangte philosophische Erziehung mitein-
ander verbinden (o. S. 54), wie es z. B. Plutarch darstellt. Daß in der offiziellen
Albrecht Dihle
Vor diesem Hintergrund sind auch Tacitus’ Aussagen über die Stellung des
Kaisers zu Recht und Gesetz zu sehen. Im 3. Annalenbuch gibt der Autor einen
Überblick über die Geschichte der Gesetzgebung (26-28). Ein ius aequum hat es
nur in der frühen Republik, vor dem Einsetzen der Parteienkämpfe gegeben, zu
deren Instrument die Gesetzgebung wurde. Seit Augustus herrscht allein das Belie-
ben des Princeps: Sexto consulatu Caesar Augustus, potentiae securus, quae trium-
viratu iusserat abolevit deditque iura quis pace et principe uteremur (ann. 3, 28,2).
Daß die Götter den Kaiser das summum rerum iudicium gegeben und allen
übrigen die gloria obsequii übrig gelassen hätten, wie es der Ritter Μ. Terentius in
einer ebenso mutigen wie erfolgreichen Verteidigungsrede Tiberius gegenüber aus-
spricht, war auch Tacitus’ Meinung. Von Augustus sagt er im Proömium der An-
nalen, er habe die ganze Macht (cuncta) unter dem Rechtstitel des Prinzipates (sub
nomine principis) in seine uneingeschränkte Verfügungsgewalt (Imperium) genom-
men. Die sakrale Legitimation dieses Zustandes, die aus dem Kaiser ein mehr als
menschliches Wesen machte, bedeutete gewiß auch in Tacitus’ Augen nur noch
einen kleinen weiteren Schritt.
Senecas Schrift De clementia steht zwar ganz in der Tradition philosophisch
bestimmter Fürstenspiegel, die dem Herrscher den Weg zu einer Tugend zeigen
wollen, in der sich die Natur des Menschen schlechthin zur Vollkommenheit bildet.
Auch die Herrschertugenden sind nach dieser Tradition menschliche Tugenden,
mag auch in der Nachahmung göttlichen Wohltuns ein besonderer Ansporn für das
Handeln des guten Fürsten liegen. Aber schon Seneca betont, daß Nero sein Amt
ohne die ihm eignende bonitas naturalis non ad tempus sumpta gar nicht würde
führen können (1, 1,6). Daß der Kaiser seine Herrscherqualitäten von Natur aus
besitze oder besitzen müsse, hört man in der Literatur jener Zeit wieder und wieder,
wenngleich wie bei Seneca unmittelbar daneben stets auch das alte philosophische
Motiv der Notwendigkeit sorgfältiger Erziehung und Selbsterziehung des Herr-
schers zu seinem Recht kommt. In der Kaiserpanegyrik, vor allem auf griechischer
Seite, fehlt nie der Hinweis auf die charismatische Natur des Herrschers. Der
Rhetor Menander (de gen. demonstr. p. 371,17ff. Sp.) lehrt, man müsse darstellen,
wie die Verrichtungen (έπιτηδεύματα) des Kaisers gleich nach seiner Geburt seine
besondere Qualität ohne „Leistungsdruck“ (άνευ πράξεων αγωνιστικών) erkennen
ließen.
A. Heuss hat eindrucksvoll gezeigt, wie unter den Adoptiv-Kaisern für eine
geraume Zeit die von Hause aus gegensätzlichen Auffassungen vom Wesen des
rechten Herrschers, die einerseits in der Philosophie und in der literarischen Tradi-
tion, andererseits in der Religionspolitik und der Vorstellungswelt der Untertanen
dominiert hatten, miteinander versöhnt wurden. Im Zeichen dieser Versöhnung
wurde auch Alexander der Große ein allerseits anerkanntes Vorbild, in dessenPer-
son sich numinose Kraft und ans Ziel gelangte philosophische Erziehung mitein-
ander verbinden (o. S. 54), wie es z. B. Plutarch darstellt. Daß in der offiziellen