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Marc Lienhard
mußte zum Teil im 19. Jahrhundert nachgeholt werden. Hinzuweisen
ist auch auf den Bruch, den die Periode nach der Aufhebung des
Edikts von Nantes für die reformierte Tradition in Frankreich bedeu-
tet. Bis 1685 lebte man vom calvinistischen Erbe, fühlte sich in Konti-
nuität mit den Anfängen der Reformation in Frankreich. Der kirch-
liche und theologische Neuanfang im 19. Jahrhundert war diesem
Erbe nur noch teilweise verpflichtet, da er von anderen Einflüssen
geprägt wurde, wie z.B. dem englischen Methodismus, von den
Reveilbewegungen in der Schweiz, oder von der deutschen Theologie.
Die Geschichte, von der wir Rändeln, hat sich auch auf das spätere
politische Verhalten des Protestantismus in Frankreich ausgewirkt.
Man wird ohne weiteres die Begeisterung verstehen können, mit der
die Protestanten die Revolution begrüßt haben, mindestens deren
erste Phase. Verständlich ist auch ihre Parteinahme für die Republik:
insbesondere während der 3. Republik (nach 1871), haben die Prote-
stanten in Frankreich eine bedeutende Rolle gespielt. Manche katho-
lische Autoren haben, nicht ganz zu Unrecht, Protestantismus und
Revolution in eins gesetzt.
Es wäre auch zu reden von der martyrologischen Überlieferung, die
in dieser Periode entstanden ist: gesammelt wurden schon von den
Zeitgenossen die Berichte vom mutigen Sterben der Glaubenszeugen.
Stätten wie die Tour de Constance in Aigues-Mortes oder das Musee
du Desert haben bis auf den heutigen Tag eine symbolhafte Bedeutung
bewahrt. Kontrapunktisch kommt hinzu ein latenter und oft virulenter
Antikatholizismus, dessen Auswirkungen noch heute bei den französi-
schen Protestanten zu spüren sind, die nur mit Mühe ihren Minder-
heitskomplex überwinden können.
Abschließend wird man jedoch fragen können und müssen, ob die
Aufhebung des Edikts von Nantes nur negative Folgen für den franzö-
sischen Protestantismus gehabt hat. Das ist nicht sicher. 1685 war er
noch von anderer Seite her bedroht: die Versuchung des Synkretis-
mus, der »accommodeurs de religions«, lauerte. Konversionen gab es
schon vor 1685, unter anderem im Adel (Turenne!). Historiker wie
Lelievre77 und Leonard78 sprachen auch von einer gewissen geistlichen
Anämie. Was wäre geschehen, fragt etwa Philippe Joutard, wenn die
Unterdrückung sich subtiler und progressiver vollzogen hätte? Wären
die Hugenotten in ihrem Stil nicht durch die Aufklärung überholt wor-
77 M. Lelievre, De la Revocation ä la Revolution, Paris, 1911.
78 Histoire generale du protestantisme, Bd. II, S. 3311F.
Marc Lienhard
mußte zum Teil im 19. Jahrhundert nachgeholt werden. Hinzuweisen
ist auch auf den Bruch, den die Periode nach der Aufhebung des
Edikts von Nantes für die reformierte Tradition in Frankreich bedeu-
tet. Bis 1685 lebte man vom calvinistischen Erbe, fühlte sich in Konti-
nuität mit den Anfängen der Reformation in Frankreich. Der kirch-
liche und theologische Neuanfang im 19. Jahrhundert war diesem
Erbe nur noch teilweise verpflichtet, da er von anderen Einflüssen
geprägt wurde, wie z.B. dem englischen Methodismus, von den
Reveilbewegungen in der Schweiz, oder von der deutschen Theologie.
Die Geschichte, von der wir Rändeln, hat sich auch auf das spätere
politische Verhalten des Protestantismus in Frankreich ausgewirkt.
Man wird ohne weiteres die Begeisterung verstehen können, mit der
die Protestanten die Revolution begrüßt haben, mindestens deren
erste Phase. Verständlich ist auch ihre Parteinahme für die Republik:
insbesondere während der 3. Republik (nach 1871), haben die Prote-
stanten in Frankreich eine bedeutende Rolle gespielt. Manche katho-
lische Autoren haben, nicht ganz zu Unrecht, Protestantismus und
Revolution in eins gesetzt.
Es wäre auch zu reden von der martyrologischen Überlieferung, die
in dieser Periode entstanden ist: gesammelt wurden schon von den
Zeitgenossen die Berichte vom mutigen Sterben der Glaubenszeugen.
Stätten wie die Tour de Constance in Aigues-Mortes oder das Musee
du Desert haben bis auf den heutigen Tag eine symbolhafte Bedeutung
bewahrt. Kontrapunktisch kommt hinzu ein latenter und oft virulenter
Antikatholizismus, dessen Auswirkungen noch heute bei den französi-
schen Protestanten zu spüren sind, die nur mit Mühe ihren Minder-
heitskomplex überwinden können.
Abschließend wird man jedoch fragen können und müssen, ob die
Aufhebung des Edikts von Nantes nur negative Folgen für den franzö-
sischen Protestantismus gehabt hat. Das ist nicht sicher. 1685 war er
noch von anderer Seite her bedroht: die Versuchung des Synkretis-
mus, der »accommodeurs de religions«, lauerte. Konversionen gab es
schon vor 1685, unter anderem im Adel (Turenne!). Historiker wie
Lelievre77 und Leonard78 sprachen auch von einer gewissen geistlichen
Anämie. Was wäre geschehen, fragt etwa Philippe Joutard, wenn die
Unterdrückung sich subtiler und progressiver vollzogen hätte? Wären
die Hugenotten in ihrem Stil nicht durch die Aufklärung überholt wor-
77 M. Lelievre, De la Revocation ä la Revolution, Paris, 1911.
78 Histoire generale du protestantisme, Bd. II, S. 3311F.