20
Hildebrecht Hommel
Da wo Theophrast, der Schüler des Aristoteles, in seiner Pflanzen-
geschichte gelegentlich von der Schönheit der Blätter spricht und
dabei zweifellos die Symmetrie der Blattformen im Auge hat (III 18,7,
vgl. III 12,9), da spricht er zu unserer Überraschung von eürhythma
(nicht von symmetra) phylla, also von Blättern mit schönem Rhyth-
mus27. Unser Befremden angesichts dieses Wortgebrauchs wird sich
legen, wenn wir nachher hören, daß unter den Synonymen von sym-
metria neben harmonia und kairos vor allem auch rhythmos erscheint.
Jedenfalls wird sich unsere Betrachtung der griechischen symmetria
einem viel weiteren Bedeutungsfeld als zunächst erwartet gegenüber-
sehen. Mit anderen Worten, unser Fremdwort ‘Symmetrie’ hat den
Begriff ganz erheblich in seiner Bedeutung eingeengt. Aber schon jetzt
dürfen wir wohl weitergehen und feststellen, daß Begriff und Hand-
habung der Symmetrie in der Antike einem freieren und gelösteren
Verhältnis zur Kunst entspricht, und daß das, was bei uns daraus
geworden ist, nicht nur eine Verengung, sondern geradezu eine Ver-
armung bedeutet. Denn erst durch die Lockerung unseres starren
Symmetrieverständnisses, mit der Zulassung von Ausnahmen und der
Anbringung von Korrekturen konnten schließlich auch wir wieder
mehr Freiheit im Umgang mit den Proportionen gewinnen.
Die Entfaltung des zunächst freilich noch gläubig-positiven Ver-
hältnisses zum antiken Symmetriebegriff können wir uns am besten
klarmachen, wenn wir die Übersetzung des griechischen Worts ins
Lateinische und danach auch ins Deutsche verfolgen, wie sie sich nach
Art eines sogenannten ‘Bedeutungslehnworts’ vollzogen haben mag.
Was man darunter versteht, zeigt deutlich das Paradebeispiel des grie-
chischen Worts syneidesis ‘Gewissen’. Die in der philosophischen Ter-
minologie zunächst noch weniger entwickelte lateinische Sprache
macht sich diesen Begriff des dem Menschen eingeborenen Gewissens
dadurch artikulierbar, daß sie ihn wörtlich aus dem Griechischen über-
trägt: syn-eidesis wird so zur con-scientia. Derselbe Prozeß wiederholt
sich bei der Übernahme dieses Begriffs von da ins Deutsche: aus con-
scientia wird Ge-wissen2\ Ganz ähnlich übernahmen die Römer wohl
trique des Grecs 1958. Die beiden Artikel symmetria und symmetros bieten durch-
wegs nur Belege eines Wortgebrauchs im Sinne von Kommensurabilität und nicht
von Seitengleichheit.
27 Zur ‘Eurhythmie’ im altgriechischen Sinn s. a. unt. S. 26, Anm. 43.
28 Siehe dazu die Dissertation meines Schülers Manfred Class, Gewissensregungen
in der griechischen Tragödie 1964, S. 3 (Anm. 6 weitere Literatur). Gemeinhin
definiert man ‘Bedeutung’ als das, was man sich bei dem betr. Wort denkt, also was
Hildebrecht Hommel
Da wo Theophrast, der Schüler des Aristoteles, in seiner Pflanzen-
geschichte gelegentlich von der Schönheit der Blätter spricht und
dabei zweifellos die Symmetrie der Blattformen im Auge hat (III 18,7,
vgl. III 12,9), da spricht er zu unserer Überraschung von eürhythma
(nicht von symmetra) phylla, also von Blättern mit schönem Rhyth-
mus27. Unser Befremden angesichts dieses Wortgebrauchs wird sich
legen, wenn wir nachher hören, daß unter den Synonymen von sym-
metria neben harmonia und kairos vor allem auch rhythmos erscheint.
Jedenfalls wird sich unsere Betrachtung der griechischen symmetria
einem viel weiteren Bedeutungsfeld als zunächst erwartet gegenüber-
sehen. Mit anderen Worten, unser Fremdwort ‘Symmetrie’ hat den
Begriff ganz erheblich in seiner Bedeutung eingeengt. Aber schon jetzt
dürfen wir wohl weitergehen und feststellen, daß Begriff und Hand-
habung der Symmetrie in der Antike einem freieren und gelösteren
Verhältnis zur Kunst entspricht, und daß das, was bei uns daraus
geworden ist, nicht nur eine Verengung, sondern geradezu eine Ver-
armung bedeutet. Denn erst durch die Lockerung unseres starren
Symmetrieverständnisses, mit der Zulassung von Ausnahmen und der
Anbringung von Korrekturen konnten schließlich auch wir wieder
mehr Freiheit im Umgang mit den Proportionen gewinnen.
Die Entfaltung des zunächst freilich noch gläubig-positiven Ver-
hältnisses zum antiken Symmetriebegriff können wir uns am besten
klarmachen, wenn wir die Übersetzung des griechischen Worts ins
Lateinische und danach auch ins Deutsche verfolgen, wie sie sich nach
Art eines sogenannten ‘Bedeutungslehnworts’ vollzogen haben mag.
Was man darunter versteht, zeigt deutlich das Paradebeispiel des grie-
chischen Worts syneidesis ‘Gewissen’. Die in der philosophischen Ter-
minologie zunächst noch weniger entwickelte lateinische Sprache
macht sich diesen Begriff des dem Menschen eingeborenen Gewissens
dadurch artikulierbar, daß sie ihn wörtlich aus dem Griechischen über-
trägt: syn-eidesis wird so zur con-scientia. Derselbe Prozeß wiederholt
sich bei der Übernahme dieses Begriffs von da ins Deutsche: aus con-
scientia wird Ge-wissen2\ Ganz ähnlich übernahmen die Römer wohl
trique des Grecs 1958. Die beiden Artikel symmetria und symmetros bieten durch-
wegs nur Belege eines Wortgebrauchs im Sinne von Kommensurabilität und nicht
von Seitengleichheit.
27 Zur ‘Eurhythmie’ im altgriechischen Sinn s. a. unt. S. 26, Anm. 43.
28 Siehe dazu die Dissertation meines Schülers Manfred Class, Gewissensregungen
in der griechischen Tragödie 1964, S. 3 (Anm. 6 weitere Literatur). Gemeinhin
definiert man ‘Bedeutung’ als das, was man sich bei dem betr. Wort denkt, also was